Am Ende des Defilees

TV-Kritik: »Parade's End«, britische Serie übers frühe 19. Jahrhundert

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 2 Min.

Umbruchzeitbetroffene versüßen sich Umbruchzeiten oft auf drei Arten: Durch Ignorieren des Schlechten unter Hervorhebung des Guten, durch Betonen des Schlechteren unter Hervorhebung früherer Umbruchzeiten (davor war’s ja noch schlimmer). Oder durch beides. Im Fernsehen, zum Beispiel. Während die Dauerkrise draußen vorm Wohnstubenfenster mit allerlei ablenkenden Melodramen verkleistert wird, startete gestern auf Arte ein weiterer Rückblick auf eine Epoche des radikalen Wandels, die noch viel mehr umgewälzt hat als 11. September, Lehman-Pleite und Staatskrise zusammen. Er heißt »Parade's End« und spielt im Fin de Siècle.

Kurz vorm Ersten Weltkrieg ging die göttlich grundierte Abstammungsordnung endgültig zu Bruch und mit ihr viele Gewissheiten, Regeln und Pfründe von einst. Gleichzeitig steuerte der technische, soziale und kulturelle Fortschritt auf eine neue Katas᠆trophe zu. Das manifestierte sich in kaum einem Ereignis stärker als dem Untergang der Titanic.

Dieses Ereignis spielt auch bei »Parade's End« eine Rolle. Ein gewisser Christopher Tietjens heiratet kurz vor der Havarie die schöne, böse Sylvia. Wie ein Eisberg fährt sie ihm in den Panzer aus Konvention, Privilegien, Realitätsverweigerung und symbolisiert so nicht nur den Fall des »letzten Gentleman«, wie der Sechsteiler bräsig untertitelt wird. Sondern den einer ganzen Klasse.

Dass diese Serie den Zuschauer in den Bann zieht, liegt jedoch an zwei weiteren Gründen: Benedict Cumberbatchs Oberlippe. Und seiner Unterlippe. Mit aller Brillanz seines Minenspiels presst der Brite sämtliche Ängste und Abwehrgefechte eines irritierten Geschlechts aus diesem Tietjens: Geschlecht im Sinne von Adel, dessen Sitz älter sei »als der Protestantismus«, wie er betont. Geschlecht aber auch im Sinne von Mann, der seinen Platz sucht in dieser neuen Zeit. Der (Anti-) Held bekundet fortan die elitäre Beharrlichkeit seiner Herkunft, während die zitternde Mundpartie darüber stetig andeutet, dass sie vergebens sein wird.

Es ist ein Genuss, den begnadeten Mimen (»Sherlock Holmes«) zu beobachten, wie sein Snobismus zwischen heißer Luxusgattin (Rebecca Hall) und kluger Feministin (Adelaide Clemens) zerbröselt. Wie er in den Krieg zieht, um beiden zu entgehen. Wie er blindwütig gegen die Moderne ankämpft und sehenden Auges verliert. Ob er sich von seiner untreuen Frau trennen wolle, fragt ein Freund. »For a Gentleman …«, stammelt Tietjens im ungleich besseren Original, »… call it Parade«. Ein Defilee, der nicht zu entkommen sei. In sechs Folgen geht sie ihrem Ende entgegen. Und wir mittendrin.

Arte, Teil vier bis sechs, 14.6., 20.15 Uhr.

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