»Genossenschaften sind auch heute attraktiv«

Historiker Holmer Stahncke über Vergangenheit und Zukunft des organisierten Miteinanders

  • Lesedauer: 4 Min.
Der Historiker Holmer Stahncke ist Co-Autor des Buchs »Wohnen bei Genossenschaften«. Stahncke hat sich nicht nur wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt, sondern kann auch aus eigener Anschauung berichten: als Student wohnte er in einer Wohnung der Hamburger Lehrerbaugenossenschaft. Mit ihm sprach Volker Stahl über die Vergangenheit und die Zukunft der Baugenossenschaften.

nd: Waren oder sind Sie Genosse?
Stahncke: Meine Eltern waren Mitglieder bei der Baugenossenschaft Bergedorf-Bille. Ich selbst bin als Student Mitglied der Lehrer-Baugenossenschaft geworden und habe im Horner Weg gewohnt. Später bin ich ausgetreten, weil ich ins Ausland gegangen bin.

Vor welchem historischen Hintergrund sind Wohnungsbaugenossenschaften entstanden?
Es gab mehrere Gründungswellen, deren gemeinsamer Nenner die Wohnungsnot war. Ob im Kaiserreich, in der Weimarer Republik oder in den Nachkriegsjahren - stets gab es zu wenige Wohnungen und von den wenigen waren viele auch noch schlecht. Also gründeten die Betroffenen Genossenschaften, um sich die Wohnungen zu bauen, die es am Markt nicht gab. Begünstigt wurden diese Gründungen durch eine entgegenkommende Gesetzgebung und die Möglichkeit, günstige Kredite zu erhalten.

Doch es gab auch Anfeindungen. In der Kaiserzeit gehörten die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften zu den lautstarken Gegnern, die Genossenschaften als kleinbürgerlich und antirevolutionär verhöhnten. Das hat sich in den 1920er-Jahren geändert, als besonders die Gewerkschaften im großen Stil in den Wohnungsbau einstiegen. Die jüngste Gründungswelle erleben wir übrigens derzeit. Viele Baugemeinschaften organisieren sich als Genossenschaften.

... und wie war die Situation in Hamburg?
Die Genossenschaftslandschaft in Hamburg ist recht vielfältig, nicht zuletzt weil die Stadt, so wie wir sie kennen, ja erst 1937 durch das Großhamburg-Gesetz entstanden ist. So hatten die Genossenschaften nicht nur regionale Besonderheiten, sie waren auch Kinder ihrer Zeit. Vom klassischen Arbeiterwohnungsbau mit großen Wohnblöcken über die Gartenstadtbewegung bis zur Baugemeinschaft mit nur einem Haus findet sich in Hamburg jede genossenschaftliche Spielart. Politisch kam man ihnen in Hamburg weitgehend entgegen, nur in der Nazizeit wurden sie an die kurze Leine gelegt. Eine schwere Zeit hatten die Baugenossenschaften auch in den 1960er- und 1970er-Jahren, als die Übermacht der gewerkschaftseigenen »Neuen Heimat« den Verantwortlichen schon den Mut nehmen konnte.

Wie attraktiv sind Genossenschaften für Mieter heute?
Sie sind heute noch so attraktiv, wie sie immer schon waren. Allein das lebenslange Wohnrecht spricht doch für sich. Genossenschaften haben den Auftrag, ihre Mitglieder zu fördern. Viele haben diese Vorgabe früher schlicht mit dem Bau von Wohnungen erfüllt. Und damit waren die Mitglieder auch vollauf zufrieden. Ein organisiertes genossenschaftliches Miteinander, wie man es früher in Berlin oder im Ruhrgebiet kannte, war den Norddeutschen meist zu anstrengend. Und auch viele Vorstände fühlten sich mit dem Bau von Häusern voll ausgelastet. Mit Sozialklimbim wollten sie nichts zu tun haben. Heute sehen die Genossenschaften das anders, sie bemühen sich, Nachbarschaften zu fördern.

Trügt der Eindruck, dass die meisten Genossen Vorstand und Aufsichtsrat machen lassen, sich selbst immer weniger einbringen und damit den genossenschaftlichen Grundgedanken der Selbsthilfe konterkarieren?
Ob es den meisten Genossen egal ist, was ihr Vorstand und ihr Aufsichtsrat machen, weiß ich nicht. Aber mir scheint, dass in vielen Genossenschaften die Altersstruktur in den Vertreterversammlungen nicht die der Mitglieder widerspiegelt. Wenn überwiegend nur die älteren Mitglieder Zeit, Lust und Energie aufbringen, sich in diesen Gremien zu engagieren, dürfen sich die jüngeren Mitglieder nicht über den Weg ihrer Genossenschaft beschweren. Vielen Genossenschaftern scheint nicht bewusst zu sein, dass sie privilegierte Mieter sind, die ihren Vermieter, die Genossenschaft, kontrollieren und beeinflussen können. Das gibt es in dieser Form nur in Genossenschaften.

Der Mieterverein rügt, dass viele Genossenschaften das Prinzip, günstigen Wohnraum zu bieten, aus den Augen verlören und vermehrt teure Wohnungen bauten. Ist der Vorwurf berechtigt?
Ich denke, er ist nicht berechtigt. Früher bauten die Genossenschaften sogenannte Kleinwohnungen für Arbeiter, Angestellte und kleine Beamte. Heute hat sich die Mitgliederstruktur in vielen Genossenschaften geändert. Wenn es eine wohlhabende Schicht in der Mitgliedschaft gibt, die beim Neubau gehobenen Wohnraum nachfragt, erfüllt eine Genossenschaft ihren Auftrag der Mitgliederförderung, auch für diese Menschen zu bauen. Bedenklich erscheint es mir aber, wenn man solche Wohnungen baut, um so neue Mitgliederschichten zu erschließen. Das mag eine betriebswirtschaftlich richtige Maßnahme sein, aber sie sollte mit einem Nachdenken über das Selbstverständnis der eigenen Genossenschaft einhergehen. In Genossenschaften sollten nicht reine Betriebswirtschafter das Sagen haben.

Also gilt für Wohnungsbaugenossenschaften immer noch: Mensch vor Rendite?
Diese Richtlinie gilt mehr denn je. Immer mehr Genossenschaften entdecken ihre Mitglieder, und immer mehr Mitglieder entdecken ihre Genossenschaft. Genossenschaften sind Organismen, die sich weiterentwickeln. Jeder der will, kann seinen Beitrag dazu leisten.

Generell: Was können Genossenschaften besser machen?
Sie können im Zeitalter der Renditemaximierung zeigen, dass die alten genossenschaftlichen Ideale von Solidarität und Miteinander ihren Sinn nicht verloren haben.

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