Onkel Otto - das schwarze Schaf

Dr. Jochen Zimmermann aus Rostock (1. Platz)

  • Lesedauer: 4 Min.
Der 76-Jährige begann nach einem Schlaganfall mit dem Schreiben von Geschichten.
Der 76-Jährige begann nach einem Schlaganfall mit dem Schreiben von Geschichten.

Ein schwarzes Schaf? Auch wir hatten eins. Mein Onkel Otto, der Bruder meiner Mutter. Er wohnte mit seiner Familie in einem Dorf bei Hamburg. Seine acht Kinder füllten das Heim mehr als aus. Da war Leben in der Bude. Gänse, Puten, Hühner, Kaninchen und vor allem viel Auslauf. Auf all das konnte ein Stadtkind wie ich nicht alltäglich zurückgreifen. Ein einziges Paradies.

Wenn da bloß nicht dieser allgegenwärtige Krieg gewesen wäre. Frühjahr 1943. Ich war gerade eingeschult worden, und Rostock hatte die ersten schlimmen Bombennächte hinter sich, da kam eine Einladung aus dem Elbedorf wie gerufen. Auf andere Gedanken kommen, nannte meine Mutter den Reisegrund. Es sollte der letzte Besuch sein.

Während wir dort waren, verhaftete die Gestapo meinen Onkel. Auf alle meine Fragen bekam ich keine klaren Antworten. Später, als der Krieg schon lange vorbei war, hieß es lapidar: Unterschlagung. Und wie es in »gutbürgerlichen Kreisen« üblich war, wurde das gefallene Mitglied der Familie durch Nichtbeachtung bestraft. Meine Neugier ließ nach. Inzwischen hatte ich auf der Warnow-Werft den Beruf des Stahlschiffbauers gelernt und arbeitete auf der Helling. Und weil Fliegerei in meiner Familie eine Tradition besaß, mein Vater arbeitete früher in den Warnemünder Arado-Flugzeugwerken, interessierte ich mich für eine GST-Segelflugausbildung. Bei einem dieser Flugtage auf dem Segelflugplatz Purkshof bei Rostock erschien eine Kommission und warb für eine Ausbildung zum Piloten bei der KVP-Luft.

Ohne lange nachzudenken, sagte ich zu. Fliegen, das war ein Traum für mich. Mir wurde klargemacht, dass die noch junge DDR keine regulären Streitkräfte aufbauen durfte. Das verbot das Potsdamer Abkommen der Siegermächte. Aber vorbereitet sollten wir schon sein, es war ja Kalter Krieg. Dreimal wöchentlich von 17 bis 21 Uhr Unterricht. Angeblich, so die Legende, war es ein Lehrgang der Volkshochschule zum Erwerb der Hochschulreife.

Wie dicht dies an der Wahrheit lag, konnte ich da noch nicht ahnen. Parallel dazu begannen die fliegertechnischen Übungen. Drei ausgediente Jagdflugzeuge der Roten Armee vom Typ Jak 18 standen bereit. Meine Segelflugausbildung war abgeschlossen, die Segelflugerlaubnis und die Silber C hatte ich auf der Habenseite. Der Umstieg auf die Motorflugzeuge war relativ problemlos. Inzwischen war die NVA gegründet, und die Ausbildung sollte an der Offiziersschule Kamenz fortgesetzt werden.

Aber es kam anders. Kurz vor meiner Abreise nach Sachsen kam ein Telegramm, dass ich aufgrund Befehls Nr. 2 nicht anreisen darf. Westverwandtschaft. Mein Onkel Otto, das schwarze Schaf der Familie. Ich hatte ihn im Fragebogen angegeben, obwohl ich nicht wusste, ob er noch lebt.

Nichts wurde mit der Pilotenlaufbahn. Dann also etwas anderes. Mithilfe der ABF gelang ein Lehrerstudium Mathe und Physik. Aber nicht die Volksbildung, sondern meine Universität gewann den Streit über den Absolventeneinsatz. Wenn schon nicht der Himmel über den Wolken, so doch wenigstens die lichten Höhen der Wissenschaft.

Bevor ich damit loslegen konnte, traf mich etwas anderes ziemlich heftig. Mein Vater verstarb. Ein Wohnungswechsel stand bevor. Das bedeutete vor allem Aufräumen. Meine Mutter fand dabei eine alte Postkarte mit der damaligen Adresse ihres Bruders Otto. Niedergeschlagen und traurig, wie sie war, beschloss sie, den alten Streit ruhen zu lassen, und, sollte er noch unter den Lebenden weilen, um Vergebung zu bitten. Ein Brief an die alte Adresse ging ab. Das Einwohnermeldeamt in Hamburg beantwortete den Brief. »Die Ehe des O. T. wurde 1953 geschieden. Der neue Wohnort ist Hartha/Sa./Zone«.

Oh Schreck! Ich hatte zum Zeitpunkt meiner Fliegerausbildung gar keine Westverwandtschaft! Doch damit nicht genug. Meine Mutter ließ nämlich nicht locker. Sie wollte den eingeschlagenen Weg der Versöhnung zu Ende gehen. Also schrieb sie an das Einwohnermeldeamt in Hartha. Übrigens ein Nachbarort von Kamenz, wo die Offiziersschule zehn Jahre zuvor vergeblich auf mich gewartet hatte. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Der Bürgermeister teilte mit, dass sich die Stadtverwaltung sehr darüber freut, eine lebende Schwester des hochverehrten und von allen geschätzten Antifaschisten Otto T. kennenzulernen.

Alles klärte sich auf. Was sich in meiner Erinnerung als »unehrenhafte Unterschlagung« festgesetzt hatte, erwies sich nun als »Wehrkraftzersetzung«. Mein Onkel Otto saß also nicht, wie ich annehmen musste, als verurteilter Straftäter im Gefängnis, sondern als politischer Häftling im faschistischen KZ. Dies war ja nun wirklich kein Grund, mich nicht fliegen zu lassen, sondern eigentlich das genaue Gegenteil. Ich brauchte schon einige Zeit, um meine Gedanken auf die Reihe zu bekommen.

Habe ich nun eine Chance verpasst? Meine Trauer blieb in Grenzen. Längst hatte ich mich auf andere Ziele eingeschworen. Sicher. Wenn ich die alle erreichen wollte, wären eigene Flügel von Nutzen. Jetzt, inzwischen mit 76 längst jenseits aller Höhenflüge, ist erkennbar: Ich habe wohl doch Glück gehabt. Ich hab nämlich was daraus gemacht. Im Leben 54 Jahre mit der gleichen Frau verheiratet, Vater dreier Kinder, fünffacher Opa, und im Beruf Promotion, zehn Jahre Studiendirektor, Gewerkschaftsvorsitzender und Diplomat an »den« deutschen Botschaften in Budapest in der Wendezeit. Bloß nicht abheben.

• Dr. Jochen Zimmermann: Onkel Otto, das schwarze Schaf

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