Das Quaken und das Quäken

»Frösche« - der neue Roman des chinesischen Literaturnobelpreisträgers Mo Yan

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Sie haben über ihn geredet, als sei Reden der lässliche Ausgleich dafür, ihn nicht gelesen zu haben. Als Mo Yan im vergangenen Jahr den Literaturnobelpreis erhielt, stand zunächst nicht sein Werk im Vordergrund, sondern jener Verdacht, der vom Mann aufs Werk fiel wie ein untilgbarer Schatten: der Verdacht der Staatstreue. Mo Yan, zuallererst nicht Schriftsteller, sondern angreifbarer Kommunist - chinesischen Regimekritikern nach jüngsten Auftritten des Autors nicht unbedingt in Erinnerung als ein betont Distanzierter zur herrschenden Macht.

Solcher Anwurf ist, wo es um Literaturpreise geht, unangemessen. Aber doch auch verständlich: Dissidenten des politischen Ostens kommen schließlich aus einer Welt, in der es Usus war oder noch ist, das politische Bekenntnis gewichtig vor jedes andere Wort zu stellen. Nachvollziehbar also dieser Wunsch der oft genug und sehr lange zum Schweigen Gezwungenen: Das Bekenntnis der Stimmhaftesten im System möge endlich auch in ihre Richtung zielen.

Wo ein Werk Wirkung hat, wünscht man sich, als eine Art parallelem Beistand, Wirkung auch vom Schriftsteller selbst? Die Einheit von Talent und Charakter? Ein weites Feld. Was Mo Yans Regimetreue angeht, so ist es immerhin eine des gewandelten 21. Jahrhunderts. In seinem neuen Roman »Frösche« geht es um Zwangsregulierungen in der Geburten- und Familienpolitik, als einem Beispiel staatlicher Gewalt, und der Autor spricht in einem »Spiegel«-Interview dazu von Chinas gigantischen Umbrüchen, die »fast alle von uns zu Opfern machten. Aber kaum jemand fragt sich, ob er nicht selbst Täter wurde, ob er nicht verletzt hat.«

Mo Yan war zur Zeit der grausamen Kulturrevolution Rotgardist, »ich habe an der öffentlich demütigenden Kritik meiner Lehrer teilgenommen, ich war eifersüchtig auf Leistungen anderer, auf das Glück, das sie hatten, ich habe, um meiner eigenen Interessen willen, meine Frau zu einer Abtreibung gedrängt. Ich bin schuldig.« Und: Es seien die Gesellschaften des Westens, die »von den Segnungen der marxistischen Ideologie profitiert« hätten; im Westen sei, wenn man die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts bilanziere, weit mehr für Arbeiter erreicht worden als unter Parteikontroll-Systemen, die sich die Befreiung der Klasse auf die Fahne schrieben. »Wir Chinesen, Russen und Osteuropäer haben Marx missverstanden.« Sagt ein Kommunist aus China. Man stelle sich vor, so etwas sei einst in staatssozialistischen Reihen hierzulande offen geäußert worden.

»Frösche«. Ein Erzähler öffnet uns - in Briefen an einen japanischen Schriftsteller - über fünf Jahrzehnte Einblicke ins Leben vor allem seiner Tante. Sie war Hebamme, ist nun Frauenärztin und wird im Buch als unbarmherzige Durchpeitscherin der »Ein-Kind-Politik« porträtiert. Ein Kurs, den diese Gugu »Chinas Geschenk an die Menschheit« nennt. Eine Frau, eisern geworden trotz zahlreicher Züchtigungen und Zurückwürfe; sie gleicht mehr und mehr einem in die Knie gezwungenen Wesen. Aber: Gugu bleibt der Partei treu - Charakter ist in totalitären Strukturen eine Mutprobe, mitunter unzumutbar. Das könnte ein Fazit dieses autobiografisch gefärbten Romans sein.

Er zeigt den funktionierenden Menschen, der fortschrittsverpflichtet doch nur Leben zerstört und irgendwann nicht mehr begreift, dass er rettungslos mutierte - hier vom dörflichen Lotosmädchen zum institutionell gepanzerten Gewaltdrachen, zur Inkarnation eines Höllenfürsten. Chinesisches Erzählen wechselt leichthin die Welten zwischen Wirklichkeit und Sage.

Die Erzählart des Buches, das eher kolportagehaft als psychologisch vorgeht, gerät rasch in Schwung, ja: in action, sie hat etwas bäurisch Derbes, mitunter auch Schwankhaftes, Metapherngehäuftes, sie mengt Unbeschwertes, Volksbuchartiges mit Grauen, und geradezu grotesk wird sogar der Thriller bemüht, wenn die Ärztin eine Hochschwangere verfolgt, um die drohende Geburt des Kindes zu verhindern. Vorbei ziehen Szenen von Kindern, die Kohle essen; da ist das Gift der Privilegien, und da ist das ewige Gefahrenspiel der verheimlichten ehrlichen Meinung - China, ein Albtraum aus zu vielen Unbarmherzigen. Die Schleifung eines Baumes wird geschildert, als würde ein Mensch martialisch gefoltert und ermordet. Nicht Holz splittert kreischend, Fleisch brüllt.

Mo Yan ist bei allem, was er bilderbogenfarbig schildert, kein robust vorpreschender Ankläger, er leidet. Er sieht Schuld und glaubt inmitten der Anwehungen von millionenfacher Feigheit und freiwilliger Blindheit doch an die Güte. Es ist freilich eine geschundene, schwer geprüfte Güte, und in den Schilderungen der chinesischen Realität offenbart sich die wuchernde Kraft eines plumpen Materialismus und einer rücksichtslosen Disziplin, welche die Menschen entzweit, vereinsamt, hartkalt macht, sie zu Dienern der Gewalt, der Willkür und des staatlichen Grobianismus erzieht.

So durchziehen das Buch, das mit einem kleinen Theaterstück endet, Fluch und Flehen. Fluch über die geschichtlich immer wieder erfahrbare Zwangsläufigkeit, mit der eine humane Idee, hier die Geburtenregelung zwecks Dämmung der Bevölkerungsexplosion, zum bösen Amoklauf der entfesselten Macht gerät. Und Flehen, weil doch alles so weh tut.

In einem Text über gewaltig aufragende, stählerne »Himmelsareale« des Malers Anselm Kiefer schrieb der Schriftsteller Christoph Ransmayr vor Jahren: »Da, ganz oben, zwischen den Sternen, ist noch etwas zu erkennen, und zwar ohne Fernglas: bleierne Hemdchen, manche kaum größer als der Finger einer Mädchenhand, andere in den Maßen von Neugeborenen oder Puppen. Für wen genäht, diese bleiernen Talare? Sie haben schon einen Namen, es sind «Die Ungeborenen». Kiefers Ode an die Ewigkeit und Zahllosigkeit all dessen, was immer erst kommt, was auf seine Gestaltung, Verwirklichung und Vollendung« noch wartet, »hier, in unserem Leben wie dort draußen, im Raum.«

An das parabolische Bild Kiefers, an diese Hemdchen musste ich denken, Mo Yan lesend. Dessen Roman »Frösche« heißt, weil die Silbe »Wa« das Quaken eines Frosches wie auch das Quäken eines Kleinstkindes meint. Ein Requiem auf die Ungeborenen, von der Ärztin Gugu zu Tausenden aus Mütterleibern geholt oder abgetrieben. Wie ein Komplementärbild zu Kiefers »Himmelarealen« wirkt jene surreale Szene, da diese Kindsmörderin in Staates Auftrag gleichsam in die Tiefe gerät, in einen Froschteich nämlich und damit in gespenstische Bedrängung durch diese Tiere, als wären es Rachegestalten von Dantes Geist.

Am Ende? Hinter einer Froschzuchtfarm verbirgt sich ein geheimes Leihmütterzentrum. Korruption und Kälte der Menschen arbeiten einander zu. Mo Yan ein Staatsdichter? Wenn, dann ist er in diesem Roman von 2009 Dichter eines Staates in einer Welt, die keine neue Ordnung wurde, sondern eine bitter alte Welt blieb. Menschenwelt eben.

Mo Yan: Frösche. Roman. Aus dem Chinesischen übersetzt von Martina Hasse. Carl Hanser Verlag, München 2013. 509 Seiten, 24,90 Euro

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