Neue Kraftprobe am Nil

Seit einem Jahr ist Muslimbruder Mursi Ägyptens Präsident / Seine Politik spaltet das Land

  • Sofian Philip Naceur, Kairo
  • Lesedauer: 3 Min.

»Keine Macht steht über der Macht des Volkes«, sagte Ägyptens frisch gewählter Staatspräsident Mohammed Mursi bei seiner inoffiziellen Antrittsrede auf dem Kairoer Tahrir-Platz vor einem Jahr. Er wolle der »Präsident aller Ägypter« sein. Ägyptens Bevölkerung zieht an diesem Wochenende Bilanz, und die fällt düster aus. Die Muslimbruderschaft, aus deren Reihen Mursi entstammt, und ihr politischer Arm, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), setzen innenpolitisch auf Konfrontation. Aufrufe zur Kooperation oder zur nationalen Einheit werden von der Opposition strikt zurückgewiesen, da die FJP die politische Macht schlichtweg monopolisiert hat.

Die ägyptische Wirtschaft liegt am Boden, die Sicherheitskräfte gehen wie schon unter dem alten Regime mit Gewalt gegen Demonstrationen und Streiks vor. Journalisten und einfache Demonstranten werden wegen »Präsidentenbeleidigung« vor Gericht gezerrt. Nachdem die Regierung im vergangenen Herbst im Eiltempo eine neue Verfassung schreiben und per Referendum verabschieden ließ, bekamen die Proteste neuen Zulauf. Viele befürchteten, die FJP werde die Verfassung missbrauchen, um die Islamisierung der Gesellschaft voranzutreiben und Kritiker mundtot zu machen.

Mursi ein Jahr an der Macht - Zwölf Monate - geprägt von Krisen und Gewalt

24. Juni 2012: Die Wahlkommission erklärt Mohammed Mursi von der Muslimbruderschaft zum Stichwahlsieger über den ehemaligen Ministerpräsident Ahmed Schafik. Am 30. Juni legt Mursi seinen Amtseid ab.

12. August: Mursi setzt Verfassungszusätze außer Kraft, mit denen seine Macht zugunsten des Militärs eingeschränkt wurde.

22. November: Dem Verfassungsgericht spricht Mursi die Kompetenz ab, über die Rechtmäßigkeit des von islamischen Parteien dominierten Verfassungskomitees zu entscheiden.

23./24. November: Die Empörung unter Mursis politischen Gegnern wächst. Hunderttausende gehen auf die Straße.

29. November: Im Eilverfahren zieht das Verfassungskomitee seinen Entwurf durch. Islamisches Recht soll Hauptquelle der Gesetzgebung sein. Die Massenproteste halten an.

25. Dezember: Laut Wahlkommission waren 63,8 Prozent der Wähler für die Verfassung .

25. Januar: Am zweiten Jahrestag des Beginns der Demonstrationen gegen Präsident Hosni Mubarak protestieren landesweit mindestens 500 000 Ägypter gegen Mursi.

26. Januar: 21 Personen werden wegen Beteiligung an Fußballkrawallen, bei denen im Februar 2012 in Port Said 74 Menschen starben, zum Tode verurteilt. Nach dem Urteil eskaliert in Port Said die Gewalt. Es gibt Dutzende Tote und Hunderte Verletzte.

11. Februar: Am zweiten Jahrestag des Rücktritts Mubaraks gehen mehr als zehntausend Ägypter auf die Straße. In mehreren Städten kommt es in den folgenden Wochen immer wieder zu gewalttätigen Protesten.

2. Juni: Das oberste Verfassungsgericht spricht dem Oberhaus des Parlaments die Legitimität ab. Auch die Verfassung sei unter nicht gesetzeskonformen Umständen zustande gekommen, heißt es.

dpa/nd

 

Zwar wurde der Ausnahmezustand kurz nach Mursis Amtsantritt aufgehoben, dennoch werden auf Grundlage der Verfassung immer mehr Demonstranten in Untersuchungshaft gesteckt, Oppositionelle vor Gericht gestellt und Anklagen wegen Blasphemie erhoben - oft mit rechtskräftigen Verurteilungen. Die christliche Minderheit, die rund zehn Prozent der Bevölkerung ausmacht, ist auffallend oft von derartigen Anklagen betroffen. Ein Menschenrechtsanwalt hebt hervor, dass es schon vorher schwer oder gar unmöglich war, Angehörige von Armee oder Polizei für Menschenrechtsvergehen zu belangen. Die neue Verfassung verfestige die Straffreiheit für die Angehörigen der Sicherheitsorgane sogar noch. Mursis Amtsübernahme, die in einen Machtkampf zwischen Militärs und Muslimbrüdern mündete, in dem offenbar ein Modus zur Machtteilung ausgehandelt wurde, hat am Umgang der Sicherheitskräfte mit friedlichen Protesten bisher wenig geändert. Immer wieder sterben Demonstranten durch Gummigeschosse, Schrotmunition oder den Einsatz von Tränengas.

Im November hatten sich 20 Oppositionsgruppierungen, unter anderem die Partei von Friedensnobelpreisträger Mohamed el-Baradei und die des früheren Präsidenten der Arabischen Liga, Amr Moussa, zu einer Allianz zusammengeschlossen, der Nationalen Rettungsfront. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass das Bündnis bei den nächsten Wahlen eine gemeinsame Liste aufstellen wird, doch hat es die Kooperation unter Oppositionsgruppen verbessert. Nach einigem Zögern ist die Front inzwischen der sogenannten Rebellkampagne beigetreten. Die im April von unabhängigen Aktivisten ins Leben gerufene Unterschriftenaktion fordert Neuwahlen und hat nach eigenen Angaben bisher über 15 Millionen Unterschriften dafür gesammelt. Mursi bezeichnete die Forderung nach seinem Rücktritt jüngst als »absurd und illegal«. Angesichts der für den 30. Juni, den Jahrestag von Mursis Amtsübernahme, angekündigten Massenproteste, zu denen neben der Front zahlreiche Jugendorganisationen und Parteien aufrufen, meldete sich Verteidigungsminister Abdel Fattah el-Sisi zu Wort. Die Armee werde den »Willen des Volkes« achten und hart gegen jede Form der Gewalt vorgehen. Die Wortmeldung kann als Drohung verstanden werden. Die Armee ist an einer Aufrechterhaltung des Status quo interessiert und muss mit Mursi an der Staatsspitze gewiss nicht um ihre Privilegien fürchten.

Seit rund zehn Tagen rüsten sich Anhänger und Gegner des Präsidenten für den 30. Juni. Vor einer Woche bereits versammelten sich Zehntausende Unterstützer Mursis im Osten Kairos. Die Demonstration blieb friedlich, während es in mehreren Städten des Landes bereits Zusammenstöße gab. Am Mittwoch war bei Protesten in Mansoura im Nildelta ein Demonstrant gestorben.

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