Ist die SPD nach links gerückt? Was Wahlprogramme über die Parteien sagen

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 5 Min.

Frank-Walter Steinmeier hat sich selbst ein Interview gegeben, vielmehr: der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der SPD-Bundestagsfraktion, welcher der Ex-Außenminister vorsteht. Daran ist nichts zu kritisieren, die Parteien halten das so mit der Selbstdarstellung - zumal ja Wahlkampf ist, auch wenn man eher den Eindruck bekommen kann, hier simulierten politische Kräfte größtmögliche Differenzen, wo es sich in Wahrheit um marginale Unterschiede handelt. Diese Ahnung wird von den Protagonisten noch verstärkt, da es als chic gilt, anderen Parteien vorzuwerfen, aus dem jeweils eigenen Wahlprogramm abgeschrieben zu haben. Darin beweist nicht nur die Linkspartei große Meisterschaft, die das unter anderem der SPD vorhält.

Womit wir wieder bei Frank-Walter Steinmeier wären. „Soziale Gerechtigkeit wird ein großes Thema dieses Wahlkampfes sein“, so der Sozialdemokrat. Das wisse auch die Kanzlerin Angela Merkel. Denn, so der Schluss des SPD-Mannes: „Anders ist nicht zu erklären, dass die CDU Rosinen aus dem SPD-Parteiprogramm herauspickt.“ Steinmeier nennt dann Mindestlohn und Mietpreisbremse, das eine, also den gesetzlichen Mindestlohn, will die Union laut ihrem Wahlprogramm gar nicht, das andere würde man in der CDU-Version lieber nicht so nennen. Aber egal: „Wer mehr soziale Gerechtigkeit will, muss schon das Original wählen. Und das ist die SPD.“

Ist das so? Nun, die Sozialdemokraten hatten in den vergangenen Jahren ziemlich daran zu knabbern, dass ihnen diesen Nimbus, also Vertreterin der „kleinen Leute“ zu sein, der gewerkschaftlich organisierten Facharbeiter und Angestellten, eines bestimmten Milieus der akademischen Berufe und so fort, niemand mehr abkaufte - die Stichworte, die man in diesem Zusammenhang bloß zu nennen braucht, lauten Agenda 2010, Hartz und Rente mit 67. Das ist zwar keine differenzierte Analyse von rot-grüner Regierungsbilanz, sozialdemokratischer Akzentverschiebung (neue Mitte!) und schon gar nicht beantwortet es die Frage, ob und wenn ja wie die SPD sich in den Wahlen seit 2005 womöglich korrigierend repositioniert hat.

Aber so ein bisschen gefühlte Linksverschiebung gibt es ja doch offenbar, und sei es, weil man so oft von links hört, dass die SPD links blinken würde - was dann gern gleich als bloße Wahlkampfrhetorik demaskiert wird. Die Frage, wohin sich die SPD in den vergangenen Jahren entwickelt hat, ob es eine Kursverschiebung gab oder nicht, ist damit nicht beantwortet. Wichtig ist die Frage, Stichwort: Kooperationsmöglichkeiten, dennoch. Die Sozialdemokraten sind zwar im Vergleich zu früherer Stärke eher ein demoskopischer Klappergaul - aber immer noch der mit Abstand größte Player in dem, was gern Mitte-Links-Lager genannt wird. Kurzum: Sind SPD, Grüne und Linkspartei nach Ende der rot-grünen Regierungsperiode und der Rückkehr der Sozialdemokraten in die Opposition nach 2009 programmatisch enger zusammengerückt?

Das festzustellen, hat sich auch der Politikwissenschaftler Marc Debus die Mühe gemacht. Er bloggt unter anderem auf Zeit online und hat mit einer Methode, die man „Wordscores“-Verfahren nennt, die Wahlprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien miteinander verglichen. „Grundlegende Idee dieses inhaltsanalytischen Verfahrens ist, dass die Sprache und damit die Wortwahl in Wahl-Programmen nicht zufällig erfolgt, sondern vielmehr dazu dient, den Wählern und den Mitbewerbern schnell erkennbare Zeichen der eigenen ideologisch-programmatischen Verortung zuzusenden“, schreibt Debus. Die Methode funktioniert vereinfacht gesprochen so: Über die relative Häufigkeit bestimmter Begriffe in den Forderungskatalogen der Parteien wird eine Inhaltsanalyse und damit ein Vergleich möglich - sowohl untereinander als auch im Zeitverlauf. Dargestellt werden können die Parteien dann in einem Koordinatensystem, dessen eine Achse wirtschaftspolitische und dessen andere gesellschaftspolitische Positionen von links nach rechts bzw. von progressiv nach konservativ markiert.

Methodische Fragen dieses Verfahrens einmal außer acht gelassen: Es zeigen sich interessante Ergebnisse. Zum Beispiel, dass sich die Freidemokraten wirtschaftspolitisch vom Hurra-Neoliberalismus ein wenig abgesetzt haben und nun ähnliche Positionen vertreten wie die Union, die schon in ihren Wahlprogrammen der Jahre 1998, 2002, 2005 und 2009 Forderungen vertreten hatte, die im Koordinatensystem knapp rechts der Mitte liegen. Aber an dieser Stelle soll ja eher das rot-rot-grüne Spektrum interessieren, vor allem die Frage, ob sich und wenn ja wohin die SPD bewegt hat - und siehe da: Zumindest wenn man Politik durch die Brille des „Wordscore“-Verfahrens betrachtet, wird man dies verneinen.

Debus schreibt: „Während die Sozialdemokraten den Ergebnissen zufolge ihre programmatische Ausrichtung kaum verändert haben, so zeigt sich bei Grünen und Linken insbesondere in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen eine Verschiebung hin zu ,linkeren‘ Positionen.“ In einem schon etwas älteren Text des Mannheimer Parteienforschers heißt es, „der programmatische Wandel der SPD zurück nach links fand – unseren Analysen zufolge – bereits zwischen 2005 und 2009 statt“.

Im Schaubild von Debus wird sogar ein Auseinanderdriften von SPD auf der einen Seite und Linkspartei sowie Grünen auf der anderen deutlich: Wie Wahlprogramme mit dem „Wordscores“-Verfahren betrachtet rutschen die Sozialdemokraten sogar wirtschaftspolitisch noch ein kleines Stück nach rechts - etwa in dem Maße, in dem sie sich gesellschaftspolitisch in Richtung „progressiv“ veränderten. Bei Linkspartei und Grünen ist die Verschiebung weit deutlicher - und verlief auf beiden Achsen, also sowohl wirtschaftspolitisch wie gesellschaftspolitisch, klar nach links/progressiv.

Zugegeben: Das alles muss nicht viel heißen, es ist eine Methode unter vielen, die politischen Forderungen von Parteien miteinander zu vergleichen und für die Diskussion handhabbar zu machen. Die Forschungsergebnisse von Debus und seinen Kollegen mögen aber wenigstens den Zweifel an manchen Behauptungen nähren, die im Wahlkampf wie Trumpfkarten gezogen werden. Sind die Grünen, wie es von links mitunter unterstellt wird, wirklich heimlich auf dem Weg zu einem Bündnis mit der Union - zwei Parteien also, mit denen es zwar rechnerisch reichen könnte, die vor dem Hintergrund des hier vorgestellten Koordinatensystems aber weiter entfernt von den Grünen liegen denn je? Stimmt die wahlprogrammatische Verschiebung der Linkspartei nach links, die von Debus konstatiert wird, mit der Eigensicht der Akteure in dieser Partei überein?

Und, damit hatten wir schließlich begonnen: Glaubt Frank-Walter Steinmeier, dass er das Original ist, das man wählen muss, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht?

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