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Mord an Schutzbefohlenen

Götz Aly hat ein Buch über die »Euthanasie«-Praxis unterm Hakenkreuz verfasst

  • Johanna Reinicke
  • Lesedauer: 3 Min.

Eine Kinderärztin erinnert sich unmittelbar nach dem Krieg: »Ich habe niemals eine Spritze verabfolgt, ohne mir das Kind von einer Stationsschwester halten zu lassen. In dem Krankenblatt habe ich die Spritze nicht vermerkt, denn die Kolleginnen hatten mir gesagt, dass sie nicht zu vermerken sei. In dem Totenschein habe ich als Todesursache Pneumonie angegeben.« Mit diesem Zitat dokumentiert Götz Aly Euthanasie-Alltag in einer Kinderklinik zur NS-Zeit.

Sein neues Buch widmete er seiner Tochter Karline. Er stellte es im Hörsaal der Nervenklinik der Berliner Charité vor - gemeinsam mit dem Theater RambaZamba, einem integrativen Projekt für Menschen mit so genannter Behinderung. Die ab ihrem achten Lebenstag an behinderte Tochter Alys und die Theatermitglieder hätten das »Dritte Reich« mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überlebt.

Das Euthanasie-Programm der Nazis wurde 1940 in Berlin beschlossen und von der »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten« nach außen vertreten. Eine vor Jahren in Berliner Pflaster vor der Philharmonie eingelassene Gedenkplatte erinnert in bewegenden, vom Autor mitformulierten Worten: »EHRE DEN VERGESSENEN OPFERN. An dieser Stelle, Tiergartenstraße 4, wurde ab 1940 der erste nationalsozialistische Massenmord organisiert, genannt nach dieser Adresse ›Aktion T 4‹. Von 1939 bis 1945 wurden fast 200 000 wehrlose Menschen umgebracht. Ihr Leben wurde als ›lebensunwert‹ bezeichnet, ihre Ermordung hieß ›Euthanasie‹. Sie starben in den Gaskammern von Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna, Bernburg und Hadamar, sie starben durch Exekutionskommandos, durch geplanten Hunger und Gift. Die Täter waren Wissenschaftler, Ärzte, Pfleger, Angehörige der Justiz, der Polizei, der Gesundheits- und Arbeitsverwaltung. Die Opfer waren arm, verzweifelt, aufsässig oder hilfsbedürftig. Sie kamen aus psychiatrischen Kliniken und Kinderkrankenhäusern, aus Altenheimen und Fürsorgeanstalten, aus Lazaretten und Lagern. Die Zahl der Opfer ist groß, gering die Zahl der verurteilten Täter.«

Der Historiker hat sich in mehr als 30-jähriger Arbeit gegen erhebliche Widerstände aus der Gesellschaft durchgesetzt. Er forschte in Archiven, las Krankenakten, sprach mit Angehörigen und mit Ärzten, von denen zwei sogar zum Kreis der unmittelbaren Täter gehörten. Im euphemistischen NS-Jargon hieß die Ermordung eines Kindes »Behandlung«, bei Erwachsenen sprachen die Verantwortlichen der T 4-Aktion von »Desinfektion«. In vielen der von Aly dokumentierten Fällen erfuhren die Familien erst nachträglich durch Übersendung der Urne an den zuständigen Friedhof und eines geheuchelten Beileidsschreibens mit Angabe einer falschen Todesursache, dass ihre Verwandten nicht mehr lebten.

Mit ihrem Euthanasie-Programm trafen die Nazis einen Zeitgeist, der die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« zu akzeptieren bereit war - selbst im Kreise von Familien der Opfer. Nur wenigen gelang es, ihre von Deportation und Vernichtung bedrohten Angehörigen durch mutige Intervention vor dem sicheren Tod zu bewahren, in einem Fall sogar bei Hitler selbst. Als 1941 der katholische Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, von der Kanzel aus in drei Predigten zum Widerstand gegen das Mordprogramm der »Euthanasie« aufrief, gab Hitler die Anordnung, es offiziell zu beenden. Doch das Morden ging weiter. Manche der in Heil- und Pflegeanstalten errichteten Gaskammern wurden abgebaut. Statt mit Kohlenmonoxid wurde mit dem Gift Luminal getötet.

Das Buch von Götz Aly dokumentiert nicht nur menschenverachtende Praxis unterm Hakenkreuz, die Eliminierung »überflüssiger Esser«, wie die Opfer in der Effizienz-Ideologie der Nazis genannt wurden. Es ist auch eine Anklage: Die einstigen Täter haben weiter in ihrem Beruf gearbeitet. Zudem fordert das Buch auf, nachzudenken über die Ambivalenz, mit der die Gesellschaft heute dem Thema begegnet. Zwar ist soziale Fürsorge für körperlich und geistig Behinderte gesichert. Aber hat sich nicht der Gedanke der Euthanasie im Zuge der Möglichkeiten der modernen Wissenschaft auf die Zeit vor der Geburt oder gar Zeugung verlagert?

Götz Aly: Die Belasteten. »Euthanasie« 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. S. Fischer Verlag. 352 S., geb. 22,99 €.

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