Ein kleines Wunder

MEDIENgeschichte: 40 Jahre »Lateinamerika-Nachrichten

  • Christoph Links
  • Lesedauer: 5 Min.

Als im Juni 1973 die erste Ausgabe unter dem Namen «Chile-Nachrichten» erschien, handelte es sich um ein hektographiertes Blatt, mit dem West-Berliner Linke auf die Nöte der sozialistischen Regierung unter Salvador Allende aufmerksam machen wollten. Sie warben um Solidarität für ein ungewöhnliches Experiment, gegen das gerade die großbürgerlichen Kreise Sturm liefen. Kochtopf-schlagende Hausfrauen zogen durch die Straßen Santiagos, die USA drohten indirekt mit Intervention. Drei Monate später war es dann soweit: Die Militärs unter Augusto Pinochet putschen den demokratisch gewählten Präsidenten hinweg, es begann eine Zeit brutaler Verfolgungen, gefolgt von einer Welle des Exils. Die Flüchtenden kamen - je nach politischer Position - sowohl nach Westeuropa als auch nach Osteuropa, viele davon in die DDR.

Die «Chile-Nachrichten» begleiteten diese Entwicklung publizistisch und blieben am Thema auch dran, als die mediale Öffentlichkeit längst mit anderen Dingen befasst war. Autoren und Redakteure aus dem Umfeld der Solidaritätsbewegung und des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität sorgten über ihre Kontakte für Insider-Berichte, die man nur hier lesen konnte und nirgends sonst. Da wenig später auch in anderen südamerikanischen Ländern Militärdiktaturen entstanden, lag es nahe, den Fokus zu erweitern und Schritt für Schritt den gesamten Kontinent in den Blick zu nehmen. Vier Jahre später fand das dann seinen Niederschlag im Titel, ab 1977 hieß das inzwischen gut gedruckte Monatsmagazin «Lateinamerika-Nachrichten».

Auffallend war dabei, dass es immer um die Sache und nicht um die persönliche Profilierung einzelner Autoren oder gar um finanzielle Gewinne ging. Erst Ende der 1980 er Jahre begann man überhaupt, Artikel namentlich zu zeichnen. Geleitet wird das Blatt bis heute von einem «Redaktionskollektiv» ohne Chefredaktion. Alle arbeiten komplett ehrenamtlich - es gibt lediglich eine feste Bürostelle für die Finanz- und Abo-Verwaltung. Das Projekt im Kreuzberger Mehringhof finanziert sich ausschließlich aus den Verkäufen des Heftes und von gelegentlichen Spenden. Zwischendurch gab es immer wieder Krisen zu meistern, da mitunter Personal und Ressourcen knapp wurden. Aber stets gelang es, neue Mitstreiter und Unterstützer zu finden, eine Generation wechselte die andere ab.

Dies war möglich, weil es keine geistige Verengung gab, keine doktrinäre ideologische Ausrichtung, sondern eine offene Diskussionskultur. Das war zu spüren als es Ende der 1980er Jahre um «Waffen für El Salvador» ging oder in den letzten Jahren um die Bewertung von Daniel Ortega in Nicaragua oder Hugo Chavez in Venezuela. Diese Offenheit habe auch ich erleben dürfen, als man mir damals das Heft kostenfrei in die DDR schickte, was ich mit der Lieferung von Lateinamerika-Büchern aus ostdeutschen Verlagen zu kompensieren versuchte. Der Zoll ließ es gewähren. Mir öffneten die Hefte eine Welt, die ich selbst so nicht erleben konnte und die meinen Blick «von unten» schärfte. Denn während die üblichen Medien in der Regel über Vorgänge an der Staatsspitze berichteten, ließen die «Lateinamerika-Nachrichten» die Bewohner der Slums zu Wort kommen, konnte man hier etwas von Landkooperativen und Frauenprojekten erfahren, waren auch die internen Konflikte der Guerilla-Bewegungen nicht tabu.

Allerdings blieb dies nicht ohne Folgen. Als ich in der «Berliner Zeitung», in der ich damals als Lateinamerika-Redakteur arbeitete, wohlwollend über die kolumbianische Stadtguerilla M-19 schrieb, wurde ich tags darauf ins Außenministerium bestellt, wo man mir unterstellte, den Links-Terrorismus zu propagieren und mir jeder weitere Publikation zu derartigen Themen ohne vorherige «Abstimmung» untersagte. Die Staatssicherheit prüfte fortan meine Post genauer. Zwei Jahre später musste ich die Redaktion verlassen.

In meiner neuen Arbeitsstelle, dem Aufbau-Verlag, wo ich ab 1986 unter anderem Bücher zu Lateinamerika herausgeben konnte, sah man das nicht so eng und ließ mich zwei Jahre später sogar erstmals nach West-Berlin reisen, da mich die «Lateinamerika-Nachrichten» zu ihrem Jahrestreffen eingeladen hatten. Nun konnte ich dort auch im angeschlossenen Forschungs- und Dokumentationszentrum FDCL arbeiten und das Iberoamerikanische Institut besuchen. Welche Horizonterweiterung für einen jungen Wissenschaftler aus der DDR!

Auch wenn ich mich heute als Verleger eher mit der deutsch-deutschen Geschichte befasse, ist mir das Lateinamerika-Thema nahe geblieben. In diesem Jahr haben wir die umfangreiche Arbeit von Inga Emmerling «Die DDR und Chile (1960-1989)» veröffentlicht, zuvor kam der Band «Aufbruch nach Nicaragua - Deutsch-deutsche Solidarität im Systemwettstreit» bei uns heraus, nicht zu reden von den Büchern über Kuba und die geraubten Kinder in Argentinien. Zur Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr wird ein Länderporträt über Brasilien erscheinen.

Bis heute beeindrucken mich die Macher der «Lateinamerika-Nachrichten» durch ihre engagierte, uneitle Art. Das Jubiläumsheft zu ihrem 40. Jahrestag, das letzte Woche erschien, enthält nicht einen einzigen Beitrag mit selbstverliebter Rückschau oder schulterklopfendem Eigenlob, obwohl es wahrlich genug Grund dafür gäbe. Stattdessen findet sich in der Mitte des Heftes ein großer Dossierteil «40 Jahre nach dem Putsch in Chile», der die aktuellen Probleme vor Ort behandelt - vom schwierigen Wahlrecht über den fortschreitenden Landraub bis hin zur Geschichtsaufarbeitung, wozu auch ein Beitrag eines «ausländischen Ossis», also eines Exilanten in der DDR, aufgenommen wurde.

Außerdem gibt es noch größere Reportagen aus sieben Ländern des Kontinents von Mexico über Honduras und Venezuela bis nach Argentinien und Brasilien, wodurch man beispielsweise die wirklichen Ursachen der jüngsten Protestbewegung begreifen kann. Und dann sind da noch die Themenbereiche Film und Literatur, die das Profil der Zeitschrift in den letzten Jahren nochmals für einen neuen Leserkreis erweitert haben, sowie ein Block mit Kurznachrichten und ein Serviceteil mit Hinweisen auf neue Fernseh- und Hörfunkproduktionen, jüngste Buch- und Zeitschriftenpublikationen sowie bevorstehende Tagungen und Seminare. Wer mal ernsthaft über den europäischen Tellerrand schauen will, bekommt hier reichlich Nahrung.

Dem Team ist zu wünschen, dass es dieses selbstbestimmte Projekt auch in den nächsten Jahren erfolgreich behaupten kann und dass sich in unserer zunehmend globalisierten Welt immer mehr Leser finden, die andere Kulturen tatsächlich von innen heraus begreifen wollen.

Der Autor ist Lateinamerikanist und Verleger des Ch. Links-Verlags

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal