Politik ohne Migranten

Nur vier Prozent aller Bundestagskandidaten kommen aus Einwandererfamilien

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 3 Min.
Menschen mit Migrationshintergrund sind in der deutschen Politik unterrepräsentiert. Wie krass dieses Missverhältnis tatsächlich ist, zeigt eine aktuelle Untersuchung des »Mediendienstes Integration«.

Jeder fünfte Bundesbürger hat einen Migrationshintergrund. Angesichts dieser Zahlen wirkt es schon befremdlich, dass von den 620 Bundestagsabgeordneten lediglich 20 aus Zuwandererfamilien stammen. An diesem Missverhältnis wird sich auch in der kommenden Legislaturperiode kaum etwas ändern. Der unabhängige »Mediendienst Integration« hat sich die Kandidatenlisten zur Bundestagswahl genauer angesehen und dabei festgestellt, dass nur vier Prozent aller Bewerber aus Migrantenfamilien kommen. Insgesamt 81 Kandidaten hat der Mediendienst gezählt.

Die mit Abstand meisten Kandidaten aus Zuwandererfamilien sind bei den Grünen zu finden. Hier treten insgesamt 23 an. LINKE und SPD liegen mit jeweils 18 Kandidaten auf Platz zwei, während die FDP neun und die Union nur sechs Bewerber ins Rennen schickt. Ganz düster sieht es bei der CSU aus: Auf der 70 Namen umfassenden Kandidatenliste finden sich nur Namen wie Straubinger, Meier oder Hasselfeldt. Menschen mit Migrationshintergrund scheint es im weiß-blauen Wunderland nicht zu geben. Auch die neuen Bundesländer haben Nachholbedarf: In Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Thüringen und Sachsen tritt kein Kandidat aus einer Einwandererfamilie an.

Kohl wollte jeden zweiten Türken loswerden

Hamburg/London (dpa/nd). Altbundeskanzler Helmut Kohl (CDU) wollte laut Geheimpapieren der britischen Regierung in den 1980er Jahren die Hälfte der in Deutschland lebenden Türken loswerden. Das berichtete Spiegel online am Donnerstagabend unter Berufung auf ein geheimes Protokoll eines Gesprächs zwischen Kohl und der britischen Regierungschefin Margaret Thatcher vom 28. Oktober 1982. Kohl war damals etwa vier Wochen im Amt.

Das Papier unterliegt nach Ablauf einer 30-jährigen Frist nun nicht mehr der Geheimhaltung und konnte von Spiegel online eingesehen werden. In dem Protokoll mit dem Aktenzeichen PREM 19/1036 heißt es nach Angaben des Portals: »Kanzler Kohl sagte, (...) über die nächsten vier Jahre werde es notwendig sein, die Zahl der Türken um 50 Prozent zu reduzieren – aber er könne dies noch nicht öffentlich sagen«. Und weiter: »Es sei unmöglich für Deutschland, die Türken in ihrer gegenwärtigen Zahl zu assimilieren.« Bei dem Gespräch anwesend waren demnach nur Kohl, sein Berater Horst Teltschik, Margaret Thatcher und ihr Privatsekretär A.J. Coles, der Verfasser des Dokuments. Als Beispiele für das »Aufeinanderprallen zweier verschiedener Kulturen« nannte der Christdemokrat Kohl demnach Zwangsehen und Schwarzarbeit der Türken. Jeder zweite von ihnen müsse daher gehen, für die Bleibenden sieht der Kanzler spezielle Schulungen vor: »Diejenigen, die integriert werden, müssten Deutsch lernen«. Die britische Regierung veröffentlichte am Donnerstag eine Reihe von Geheimdokumenten, die einen überaus hohen zeitgeschichtlichen Wert besitzen. Das Nationalarchiv machte die Akten öffentlich zugänglich, einige davon im Netz. Aufsehen erregte unter anderem eine vorbereitete Rede von Queen Elizabeth II. an das Volk für den Fall des Ausbruchs eines Dritten Weltkriegs. Auch die britische Reaktion auf die US-Invasion in Grenada und innenpolitische Details aus der konservativen Regierung Margaret Thatcher waren dabei von großem Interesse.

Setzt man die Anzahl der Kandidaten ins Verhältnis zu Bevölkerung und Parteigröße, schneiden auch die westdeutschen Flächenländer denkbar schlecht ab. Während in Berlin auf einen Bewerber mit Migrationskontext 300 000 Einwohner kommen, sind es in Nordrhein-Westfalen 2,2 Millionen.

Doch selbst dort, wo die Migrationskontextler antreten, ist ihr Einzug in den Bundestag alles andere als sicher. Nach Angaben des Mediendienstes sind bei SPD, LINKEN und Grünen jeweils fünf Plätze »aussichtsreich«. Bei der CDU hat keiner der sechs Bewerber einen sicheren Listenplatz. Allerdings kandidieren zwei in Wahlkreisen, in denen die CDU 2009 die Direktwahl gewonnen hatte. Von den neun Kandidaten der Liberalen könnten es zwei in den Bundestag schaffen. Vorausgesetzt, die FDP kommt über die Fünf-Prozent-Hürde. Sollte den Piraten der Einzug gelingen, dann käme auf Listenplatz zwei auch ein »deutsch-schwedischer Doppelstaatler« ins Parlament.

Nach Schätzungen des Mediendienstes haben lediglich 15 bis 20 Kandidaten ein reelle Chance »auf eine aktive politische Teilhabe«. Demzufolge würden »etwa drei Prozent der Abgeordneten die ethnische Vielfalt Deutschlands repräsentieren«.

Doch warum finden so wenige Menschen mit Migrationshintergrund den Weg in die Politik? »Schon die Aufstellung der Kandidatenlisten ist problematisch«, meint Hilmi Kaya Turan vom Türkischen Bund in Berlin-Brandenburg gegenüber »nd«. So müssten sich die Bewerber vorab die entsprechenden Mehrheiten in der Partei organisieren. »Da fehlt den Migranten häufig die Unterstützung der Parteibasis.«

Auch wenn sich die Situation in den vergangenen Jahren gebessert habe, sollten sich die Parteien dem Thema endlich stellen, fordert Turan. »Warum diskutiert man nicht einmal auf einem Parteitag, warum es so wenige Migranten an die Spitze schaffen.« Fehlendes Interesse an Politik schließt Turan als Ursache jedenfalls aus.

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