Der Kandidat schmeichelt dem Osten

Mindestlohn und Rentengerechtigkeit: Steinbrück wirbt um SPD-Stimmen von ostdeutschen Wählern

  • Lesedauer: 4 Min.
Entgegen miserablen Umfragewerten versucht die SPD, ihrem Wahlkampf Schwung zu verleihen. In Halle umworb ihr Kanzlerkandidat die Ostdeutschen – nur Tage, nachdem er sie verprellte.

Schon zur Frühstückszeit teilt Manuela Schwesig im Radio aus. Die Regierung Merkel, erzählt das Gesicht Ostdeutschlands im Kompetenzteam von SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, habe die Bürger im Osten der Republik »belogen und betrogen«; trotz vollmundiger Ankündigungen gebe es noch immer keine Rentengerechtigkeit. 43 Tage vor der Wahl scheinen die Sozialdemokraten doch den Angriffsmodus aktivieren zu wollen. Martin Dulig, der sächsische SPD-Landeschef, wirkt kurz nach dem Frühstück erleichtert. Sein knapper Kommentar vor der Händelhalle in Halle (Saale): »Zeit wird´s.«

Nach Halle hat die SPD eingeladen, um unter Beweis zu stellen, dass sie sich nicht zuletzt um den Osten kümmert. »Neue Impulse für Ostdeutschland« heißt die Veranstaltung, zu der rund 800 Mitglieder und Sympathisanten angereist sind und die als »Themenkonferenz« angekündigt wird – ein etwas hochtrabendes Etikett für einen Vormittag, an dem Kanzlerkandidat Peer Steinbrück ein gutes Stündchen referiert und dann ein halbes Dutzend prominenter Ost-Genossen auf dem Podium diskutieren darf. Sogar ein paar Fragen aus dem Saal werden beantwortet – freilich nicht durch Steinbrück.

Immerhin hat die PR-Maschine für die Veranstaltung gut funktioniert, wenngleich vermutlich nicht so, wie man sich das in der SPD-Zentrale vorgestellt hat. Schon einige Tage vor der Konferenz hatte Steinbrück unfreiwillig große Aufmerksamkeit auf das Thema Ostdeutschland gelenkt, indem er seiner Kontrahentin, der CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel, echte Leidenschaft für Europa absprach – unter Hinweis auf ihre Herkunft Ost. Die Aufregung war groß, nicht nur in den Medien, sondern auch in der Partei. Man sei es ja gewohnt, Steinbrück für Äußerungen zu verteidigen, die aus dem Zusammenhang gerissen worden seien, sagt ein ostdeutscher Sozialdemokrat. Das Problem diesmal, merkt er etwas resigniert an, sei aber: »Er meint das wirklich so.«

Also ist Steinbrück wieder einmal genötigt, Scherben aufzukehren und Porzellan zu kitten, statt die, wie er selbst gern formuliert, »Kavallerie zu satteln«. Er bitte, ihn nicht misszuverstehen, betont er in einem »Einschub aus aktuellem Grund«: Er wolle die Ostdeutschen keinesfalls alle in einen Topf werfen, und seine Äußerung über die Kanzlerin bedeute nicht, dass er den Menschen im Osten eine »regional bedingt Distanz zu Europa« unterstelle. Steinbrück erinnert daran, dass Bewegungen wie die tschechische »Charta 77« für ein »Zurück nach Europa« gestanden hätten. Der Beifall im Saal klingt fast erleichtert. Ob die Klarstellung auch beim ostdeutschen Wähler ankommt oder der Kandidat den Makel des herablassenden Wessis behält, bleibt abzuwarten.

In Halle jedenfalls gibt sich der SPD-Mann alle Mühe, sich als Ossi-Versteher zu präsentieren, als Mann also, der die Leistungen der Ostdeutschen preist, ihre gelegentliche Ernüchterung versteht und die Defizite im Osten erkennt. Über weite Passagen seiner Rede schmeichelt er: Der Osten sei »kein Jammertal«, sondern eine »Region tüchtiger und zupackender Menschen«. Zugleich müsse man fragen, ob die innere Einheit »wirklich vollendet« sei. Steinbrück verweist auf Umfragen, denen zufolge sich zwischen 27 und 31 Prozent der Bürger in den Ostländern noch immer nicht wirklich als Bundesbürger fühlen: »Es fehlt etwas«, sagt er, »es stimmt was nicht.«
Der Frage, was fehlt und wie er den Mankos zu Leibe rücken will, widmete Steinbrück deutlich weniger Redezeit. Die Arbeitslosigkeit Ost sei

doppelt so hoch wie im Westen; bei den Einkommen klaffe eine große Lücke; auf ein einheitliches Rentenrecht warte man trotz einer Zusage im Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb vergebens. »Ich bin dafür, dass wir uns Ziele setzen«, sagt Steinbrück. Diese bleiben aber vage; seine Ideen überraschen, obwohl im Titel der Veranstaltung »neue Impulse« avisiert wurden, nirgends. Steinbrück will die Forderung nach flächendeckendem Mindestlohn von 8,50 Euro in ein Programm für die ersten 100 Regierungstage aufnehmen; auch die »schrittweise« Rentenangleichung »nehmen wir uns vor«, fügte er an. Den Solidarpakt werde eine SPD-geführte Regierung während dessen Laufzeit bis 2019 nicht in Frage stellen: »Wir stehen zu unseren Verpflichtungen.« Danach solle ein Paket aufgelegt werden, dass »Bedürftigkeitskriterien« folgt, jedoch nicht mehr nach Ost und West differenziert ist. Auch das ist eher ein älterer Hut als ein neuer Impuls.

Im Saal erntete der Kandidat für seine Rede Wohlwollen. Er habe »differenziert, nüchtern und sachbezogen analysiert«, sagte der Politologe Everhard Holtmann aus Halle, der aber einräumte, die politischen Schlussfolgerungen seien eher »unkonkret« geblieben. Ob das im Herbst reicht, bleibt abzuwarten. Bisher trifft auf die Umfragewerte von SPD und CDU zu, was Steinbrück zu den Einkommen Ost und West feststellt: »Der Rückstand ist skandalös stabil.«

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