Bedrückende Vorbilder

ZUR SEELE: Erkundungen mit Schmidbauer

  • Wolfgang Schmidbauer
  • Lesedauer: 4 Min.

»In meinem Alter war mein Vater schon verheiratet. Er hatte zwei Kinder und machte Karriere. Und ich? Ich habe gerade eine Umschulung hinter mir, weil mein Studienabschluss auf dem Arbeitsmarkt nicht gefragt ist. Ich soll froh sein um meinen Praktikantenjob und kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich mit meiner Freundin zusammenziehen soll oder nicht. Keine Ahnung, wie Papa das fertig gekriegt hat!«

Ähnliche Äußerungen hört der Therapeut viel öfter als früher. Er beobachtet, wie junge Erwachsene die Ablösung von den Eltern überspringen und aus dem Stadium, in dem sie noch bei ihren Eltern leben, sogleich in das überwechseln, in dem sie wieder bei (und von) ihren Eltern leben. Ihre Versuche sind gescheitert, eine ihre (und die Ansprüche der Eltern) befriedigende Form der Ablösung zu finden.

So sucht der 40-jährige Sohn Hilfe, weil er an Angstzuständen leidet. Sie haben mit der Beziehung zu seinem Vater zu tun. Dieser Vater hat nicht studiert, sich aber zu einem erfolgreichen Manager hochgearbeitet. Dem Sohn finanzierte er ein mühsam in verschiedenen Internaten erworbenes Abitur, ein vor dem Staatsexamen abgebrochenes Jurastudium und anschließend die Ausbildung an einer Filmhochschule.

Der Sohn verbindet seine Angstzustände mit seinem drohenden Versagen vor den Versprechen, die er seinem Vater gegeben hat. Er quält sich mit einem Projekt, für das er Drehbuchförderung beantragen will. Der Sohn berichtet, dass ihn die Aufgabe, den Vater gnädig zu stimmen, weit mehr beschäftigt als das Drehbuch selbst, dessen Erfolgsaussichten er pessimistisch einschätzt. »Ich baue für Papa eine Kulisse, aber es geht nicht anders, was soll ich machen?«

Die 66-jährige Ärztin sucht wegen einer Depression Hilfe. Ihr 38-jähriger Sohn hat ihr gestanden, dass er in den letzten Jahren nicht mehr - wie die Eltern glaubten - ein Studium zum Abschluss gebracht, sondern an einem Zeitschriftenprojekt mitgearbeitet hat. Von seinen kargen Honoraren dort wird er niemals eine Familie ernähren und nicht einmal eine eigene Wohnung finanzieren können. Eine Altersversorgung hat er nicht.

Die Mutter hat bisher das Studium ihres Sohnes finanziert. Es hat lange gedauert, weil er mehrmals sein Fach wechselte. Diesmal hatte er behauptet, den Abschluss zu machen und bald finanziell unabhängig zu werden. Die Mutter wird im Ruhestand nicht so viel verdienen, dass sie ihren Sohn weiter versorgen kann. Es ist in ihren Augen unzumutbar, ihren Sohn der Sozialhilfe auszuliefern.

Soziologen sagen dazu nüchtern, dass in Zeiten der Globalisierung in vielen Familien Abstieg droht. Viele Kinder werden weder die materielle Sicherheit noch die beruflichen Karrieren ihrer Eltern erreichen. Das Thema ist nicht neu. Aber für die Betroffenen sind die damit verbundenen Ängste, Schuldgefühle und Depressionen oft kaum erträglich. Sie fühlen sich als Versager angesichts der Mythen der Wachstumsgesellschaft. Ist der Fortschritt nicht selbstverständlich? Haben wir nicht zu Recht erwartet, dass unsere Kinder weiter kommen und mehr erreichen als wir?

Wir entdecken im kleinen Raum der Familien dieselbe Aufgabe, der sich unsere großen Institutionen zögernd stellen. Das wirtschaftliche Wachstum kann so nicht weitergehen. Rohstoffe und Energiequellen sind endlich. Wir verbrauchen schon viel zu lange weit mehr, als sich regenerieren kann.

Am besten wird der Umbau der Wachstumsgesellschaft gelingen, wenn wir eine Tugend pflegen, die ebenso altmodisch wirkt wie sie hilfreich ist: die Dankbarkeit für das Erreichte und die sorgfältige Beachtung des Guten, das bleibt, auch wenn wir es nicht mehr steigern, ja nicht einmal in seinem gesamten Umfang erhalten können. Dankbarkeit schützt vor den panischen Fantasien von Verlust, Einschränkung, Rückkehr in die Steinzeit, die so schnell (und oft manipulativ) ins Gespräch gebracht werden, wenn es darum geht, die Grenzen des Wachstums zu akzeptieren.

Wenn Eltern sich über das freuen, was sie erreicht haben, und davon so viel abgeben, wie sie es guten Mutes können, wird es auch für die Kinder wieder leichter, sich nicht darauf zu fixieren, dass heute ein akademischer Abschluss keine berufliche Karriere garantiert. Sie können wieder daran denken, dass es schön war, studieren zu können, Zeit und Raum zu haben, sich in einer so extrem komplex gewordenen Arbeitswelt zurechtzufinden, Erfahrungen zu sammeln.

Das könnte den jungen Menschen eine quälende und sinnlose Demonstration der elterlichen Überlegenheit ersparen. (»In deinem Alter habe ich längst mein eigenes Geld verdient!«, »Ich hätte nie auf einem solchen Praktikumsplatz gearbeitet!«). Es würde sie auch etwas von dem grausamen inneren Druck befreien, dem sich so viele junge Menschen aussetzen. Eine tadellose Leistungsbiografie mit den richtigen Auslandsaufenthalten und keinem vergammelten Monat ist völlig in Ordnung. Aber sie darf nicht überschätzt werden.

Auch nach ein paar verschusselten Jahren können junge Menschen ihren Platz finden und sich prächtig entwickeln, so lange die Eltern an sie glauben und sie nicht verwöhnen, aber in ihren Wegen und Irrwegen nach Möglichkeit unterstützen. Gefährlich ist es, im politischen wie im privaten, im Einsatz für die große, erlösende Vision Rücksichtnahme und Dankbarkeit zu vergessen.

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