Ruges Memoiren

Leseprobe

  • Lesedauer: 2 Min.

Wer einen Monat in China ist, schreibt ein Buch. Wer ein Jahr in China ist, schreibt einen Artikel. Wer zehn Jahre in China ist, schreibt eine Postkarte, denn er weiß nun, dass er mehr von diesem Land nicht verstanden hat. Das sagten erfahrene englische Kollegen, als ich vor sechzig Jahren zum ersten Mal nach Ostasien kam: Ein junger Reporter mitten im Strom der Ereignisse, fasziniert vom Kampf der Weltmächte um Korea. Damals hätte ich nie geglaubt, dass mehr als ein halbes Jahrhundert danach noch immer kein Friedensvertrag diesen Krieg beendet haben würde.

Ein Korrespondentenleben später reichen Postkarten der Erinnerung nicht aus, aber ein Buch weiser Wertungen und Vorhersagen geht einem Reporter auch nicht von der Hand. So ist dies kein Versuch, eine Weltgeschichte der Nachkriegszeit zu schreiben oder in persönlichen Memoiren schöne und traurige Erlebnisse eines langen Lebens zu schildern. Es bleiben Ereignisse und Begegnungen, Enttäuschungen und Hoffnungen in einer Zeit, die wir zu Recht oder Unrecht immer noch als Nachkriegszeit empfinden. Die mörderische, erdrückende Diktatur war zerschlagen, die Welt der Sieger aber, auf die wir hofften, immer noch voll von Ungereimtheiten und Ungerechtigkeit.

Über die Nachkriegsgrenzen hinweg versuchte ich, andere Länder und Gesellschaften Europas kennenzulernen. Ich verglich, was ich sah, mit den Erlebnissen, die meine Erinnerung an die Jahre im Dritten Reich und im Deutschland der Besatzungszonen geprägt hatten. Meine Neugier brachte mich schließlich im Westen über die USA bis zum Pazifik und nach Alaska und in östlicher Richtung über die gewaltige UdSSR und den Norden Chinas bis zu kleinen russischen Inseln am Ende Sibiriens, die wiederum fast an Amerika stoßen. Dies war auch eine Reise durch die Welt des Kalten Krieges, und die Herausforderung lag stets darin, sie ohne Schwarzweißmalerei zu schildern ...

Aus dem Vorwort von Gerd Ruges Memoiren »Unterwegs. Politische Erinnerungen« (Hanser, 324 S, geb., 21,90 €)

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