»Wir machen ein Experiment«

Der erste Schweizer Strichplatz ist in Zürich eröffnet worden

  • Sabine Hunziker, Zürich
  • Lesedauer: 3 Min.
Etwa 30 Prostituierte sind in Zürich am ersten Abend zum neu eröffneten Sex-Drive-In aufgebrochen. Auch einige Kunden hätten sich zu dem neuen Etablissement begeben, sagte der Sprecher der Sozialdienste der Schweizer Stadt, Thomas Meier. Die Stadt hatte das Etablissement offiziell am Montagabend um 19 Uhr eröffnet.

Der Straßenstrich nahe des Zürcher Bahnhofs am Sihlquai, wo Frauen zu Stoßzeiten fast Schulter an Schulter standen, ist Geschichte. Gefährliche Arbeitsbedingungen der Sexarbeiterinnen sowie Schmutz und Belästigungen für Anwohner sind der Grund dafür. Dafür gibt es seit Montag in einer parkähnlichen Anlage am Depotweg die Möglichkeit für die Frauen, »ihrer Arbeit nachzugehen«.

Als erste Sex-Anlage in der Schweiz bietet der Platz am Stadtrand von Zürich von 19 bis 5 Uhr rund 40 »Arbeitsplätze an«: neun mit dem Auto befahrbare und Boxen mit Parkplätzen davor. Auch vier Abstellplätze für Wohnmobile, sanitäre Anlagen und eine Beratungsstelle sind da. »Prostitution ist ein Geschäft und die wirtschaftliche Logik spricht für den Strichplatz« sagt Martin Waser Leiter des Sozialdepartements Zürich. Er ergänzt: »Wir haben keine Garantie, dass der Strichplatz funktionieren wird, wir machen ein Experiment.«

Waser moderierte zusammen mit Michael Herzig, Bereichsleiter für soziale Einrichtungen und Betriebe, eine Medienkonferenz. »Genau genommen ist der Standort nicht ideal«, sagt Herzig, »daneben ist eine Künstlersiedlung und Migranten mit Kindern.« In Zürich stehen aber fast alle politischen Parteien hinter dem Projekt. Eine Ausnahme ist die Schweizerische Volkspartei (SVP). Sie bezeichnet den Platz als »staatlich subventionierte Prostitution« und weist auf die gut 2,4 Millionen Franken Baukosten und die jährlichen 700 000 Franken Betriebskosten hin. 2011 hatte die SVP ein Referendum erzwungen: gerade mal 53 Prozent der Bevölkerung stimmte für die Boxen.

Was hier neu ist, kennt Deutschland schon lange. Essen verlegte den Strich vor Jahren auf einen Platz: der »sicherste Strich Europas«. Auch in Dortmund gibt es Verrichtungsboxen, der Straßenstrich wurde 2011 im Stadtgebiet verboten. Eine Sexarbeiterin hatte dagegen vor Gericht geklagt und gewonnen. Es soll nun ein Gebiet für den Strich zu Verfügung gestellt werden.

Auch in Zürich gibt es Probleme. Zwar sind die Boxen für Rebecca Angelini von der Fachstelle Frauenhandel und -migration eine Verbesserung in punkto Freiergewalt, die Infrastruktur und die Beratung vor Ort sind sehr gut - dies hilft aber nicht gegen Frauenhandel. Zuhälter müssen nicht vor Ort sein, um Druck auszuüben. Nur ein Tropfen auf den heißen Stein sind die 40 »Arbeitsplätze«: der sichtbare Teil der Sexarbeit macht zehn Prozent aus. Der Großteil findet in Hotels oder Wohnungen statt.

Vielmehr gehört der neue Strichplatz in Zürich zu einem Maßnahmenpaket, das auf eine Regulierung des Sexgewerbes zielt. Mit der neuen Prostitutionsgewerbeverordnung (PGVO) finden Kontrollen statt und es werden Bußgeldbescheide ausgesprochen. Dies bedeutet in erster Linie eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der Frauen.

Sylvia Leiser alias Frau Mercedes arbeitet seit über 30 Jahren auf dem Autostrich in Bern. Sie findet, dass es unmöglich ist, den Sihlquai aufzugeben. »Es findet halt dann irgendwo in der Nähe statt: Das Milieu hat mehr zu sagen als der Staat.«

Insgesamt waren in der Stadt nach Angaben der Polizei im vergangenen Jahr etwa 1200 Frauen als Prostituierte registriert. Die tatsächliche Zahl sei aber unklar, weil viele schwarz arbeiteten und nur Neuankömmlinge registriert würden, so ein Polizeisprecher.

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