Kurt Tucholsky: Drei Minuten Gehör

  • Lesedauer: 3 Min.

Am Sonntag ist Weltfriedenstag. Doch die Mahnungen der »Nie wieder Krieg«-Bewegung, zu deren Mitbegründern Tucholsky Anfang der 20er Jahre gehörte, bleiben bis heute ungehört. Nicht nur in den Ruinen von Homs, sondern auch in allen europäischen und US-amerikanischen Regierungsstuben, in denen ein Militärschlag gegen Syrien geplant wird.

Kurt Tucholsky schrieb dieses Gedicht 1922, wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Er veröffentlichte es am 29. Juli 1922 unter dem Pseudonym Theobald Tiger in der Zeitschrift »Republikanische Presse«.

Drei Minuten Gehör will ich
von euch, die ihr arbeitet -!

Von euch, die ihr den Hammer schwingt,
von euch, die ihr auf Krücken hinkt,
von euch, die ihr die Feder führt,
von euch, die ihr die Kessel schürt,
von euch, die mit den treuen Händen
dem Manne ihre Liebe spenden -
von euch, den Jungen und den Alten -:
Ihr sollt drei Minuten inne halten.
Wir sind ja nicht unter Kriegsgewinnern.
Wir wollen uns einmal erinnern.

Die erste Minute gehöre dem Mann.
Wer trat vor Jahren in Feldgrau an?
Zu Hause die Kinder - zu Hause weint Mutter ...
Ihr: feldgraues Kanonenfutter -!
Ihr zogt in den lehmigen Ackergraben.
Da saht ihr keinen Fürstenknaben:
der soff sich einen in der Etappe
und ging mit den Damen in die Klappe.
Ihr wurdet geschliffen. Ihr wurdet gedrillt.
Wart ihr noch Gottes Ebenbild?

In der Kaserne - im Schilderhaus
wart ihr niedriger als die schmutzigste Laus.
Der Offizier war eine Perle,
aber ihr wart nur ›Kerle‹!
Ein elender Schieß- und Grüßautomat.
»Sie Schwein! Hände an die Hosennaht -!«
Verwundete mochten sich krümmen und biegen:
kam ein Prinz, dann hattet ihr stramm zu liegen.
Und noch im Massengrab wart ihr die Schweine:
Die Offiziere lagen alleine!
Ihr wart des Todes billige Ware ...
So ging das vier lange blutige Jahre.
Erinnert ihr euch -?

Die zweite Minute gehöre der Frau.
Wem wurden zu Haus die Haare grau?
Wer schreckte, wenn der Tag vorbei,
in den Nächten auf mit einem Schrei?
Wer ist es vier Jahre hindurch gewesen,
der anstand in langen Polonaisen,
indessen Prinzessinnen und ihre Gatten
alles, alles, alles hatten - -?
Wem schrieben sie einen kurzen Brief,
dass wieder einer in Flandern schlief?
Dazu ein Formular mit zwei Zetteln ...
wer mußte hier um die Renten betteln?
Tränen und Krämpfe und wildes Schrein.
Er hatte Ruhe. Ihr wart allein.
Oder sie schickten ihn, hinkend am Knüppel,
euch in die Arme zurück als Krüppel.
So sah sie aus, die wunderbare
große Zeit - vier lange Jahre ...
Erinnert ihr euch -?

Die dritte Minute gehört den Jungen!
Euch haben sie nicht in die Jacken gezwungen!
Ihr wart noch frei! Ihr seid heute frei!
Sorgt dafür, dass es immer so sei!
An euch hängt die Hoffnung. An euch das Vertraun
von Millionen deutschen Männern und Fraun.
Ihr sollt nicht strammstehn. Ihr sollt nicht dienen!
Ihr sollt frei sein! Zeigt es ihnen!
Und wenn sie euch kommen und drohn mit Pistolen -:
Geht nicht! Sie sollen euch erst mal holen!
Keine Wehrpflicht! Keine Soldaten!
Keine Monokel-Potentaten!
Keine Orden! Keine Spaliere!
Keine Reserveoffiziere!
Ihr seid die Zukunft! Euer das Land!
Schüttelt es ab, das Knechtschaftsband!
Wenn ihr nur wollt, seid ihr alle frei!
Euer Wille geschehe! Seid nicht mehr dabei!
Wenn ihr nur wollt: bei euch steht der Sieg!
- Nie wieder Krieg -!

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