Blut muss fließen

Spielzeiteröffnung: »Agonie« an den DT Kammerspielen

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Anfang wie am Ende des Stücks formieren sich die Romanows in ihrer guten, schwarzen Stube wie zum Familienfoto. Weiß strahlen die Kleider der Zarin Alexandra Feodorowna und ihrer vier Töchter. Der Papa, Zar Nikolai II., trägt Uniform. Uniformiert auch das Söhnchen, Zarewitsch Alexej. Die lang herbeigebetete Geburt des Thronfolgers ist Anlass der Zusammenkunft zu Beginn. Alexej, den Teddy an die Brust gepresst, trägt Matrosentracht. Auf seiner Kappe leuchtet in kyrillischen Lettern das Wort »Aurora«. Wenn die Familie nach turbulenten zwei Theaterstunden am Schluss wieder derart zusammensteht, weiß Alexej das Datum: Es ist der 16. Juli 1918. Tags darauf werden die Romanows von Bolschewiki erschossen werden.

Das nur 13 Jahre währende Leben des kränklichen Jungen (Moritz Grove) steckt den Zeitraum ab, in dem »Agonie« spielt. Der Panzerkreuzer Aurora - erst im Einsatz im Russisch-Japanischen Krieg, dann Signalgeber für den Sturm aufs Winterpalais - feuert durch seine Anwesenheit in Gestalt eines stummen Schriftzugs hier gleichsam die unhörbaren Salven ab, die Alexejs Dasein auf der Erde ins Historische heben. Mit seinem »zaristischen Lehrstück über die letzten Tage der Romanows« hat das Duo Jürgen Kuttner/Tom Kühnel nicht weniger im Sinn, als einen Epochenwandel auf die Kammerbühne zu projizieren. Nach Regiearbeiten über Grundkonflikte des 20. Jahrhunderts (»Die Sorgen und die Macht« nach Peter Hacks, »Capitalista, Baby« nach Ayn Rand, »Demokratie« nach Michael Frayn) wühlen Kuttner und Kühnel nun im Ursprungsstaub jenes Zeitalters, das vergangen sein mag, aber nicht vorbei ist. Heute sieht man erneut einen Epochenwandel heraufziehen, ohne dass er sich irgendwo dingfest machen ließe. Wie die Figuren im Stück leben wir wieder in einer Zeit der apokalyptischen Beschwörungen, der Heilsversprechungen, der Ängste und des Wunderglaubens.

Jörg Pose ist in »Agonie« ein zerrissener Zar, der nicht Ja und nicht Nein sagen kann. Willenlos schwankend gibt er ein erbärmliches Bild ab. Wie sich dieser Mann den Beinamen »der Blutige« verdient hat? Durch seinen Unheil stiftenden Unwillen zur Macht. Wenn Jörg Pose seinen Zaren in weinerlicher Dümmlichkeit immer wieder die Alternativlosigkeit seiner entscheidenden Nicht-Entscheidungen herunterleiern lässt, kann einen das Mitleid packen. Lasst dieses Männchen doch in seinem Kämmerlein Fotos entwickeln. Nichts täte er lieber als einfach nur das. Doch von draußen dröhnt Donnerhall.

Das Blut fließt unsichtbar (kein Tropfen Kunstblut!), aber unaufhörlich - nicht nur auf Schlachtfeldern und Straßen. Das Söhnchen ist von der Bluterkrankheit betroffen. Ein Todeskandidat von Geburt an. Von den Ärzten dem Schicksal überlassen, naht Heilung in Gestalt des Wanderpredigers Grigorij Jefimowitsch Rasputin, der von Michael Schweighöfer als verlotterter Säufer vorgestellt wird. Dieser bärtige Bauer aus Sibirien also ist »Gottes Gefäß«. Er heilt Alexej durch Handauflegen und wird seine Pranke fortan auch aus Staatsgeschäften nicht mehr heraushalten; er redet, verworren, dem Frieden das Wort. Die Mutter, die Zarin (Katharina Marie Schubert), verfällt Rasputin derart, dass bald die Intrigen und Gerüchte blühen. Der Zar, seiner Gattin trauriger Untertan, wankt und wankt. Was der Fürsten-Clique mit Gift nicht gelingt - Rasputin endlich zu entfernen - erledigen sie schließlich mit Pistolenschüssen.

Jürgen Kuttner zieht wieder in verschiedenen Rollen die Strippen, tritt aber, im Gegensatz zu den früheren Inszenierungen, nicht als Moderator und Kommentator in Erscheinung. Auch die meisten Ensemblemitglieder (u.a. Natali Seelig, Helmut Mooshammer, Daniel Hoevels) verkörpern jeweils diverse Charaktere und nutzen die Gelegenheit, ihre Wandelbarkeit mit überbordender Spielfreude unter Beweis zu stellen. Wie schon in »Demokratie« treten die Schauspieler auch wieder als Playback-Sänger hervor. Diesmal sind es aber nicht Schlager aus der Willy-Brandt-Zeit, die eine musikalische Parallelgeschichte zum Stück erzählen, sondern agitierende Songs und Choräle aus Brecht/Eislers Lehrstück »Die Mutter« nach Gorki, kantig interpretiert von Ernst Busch.

Faszinierend das Bühnenbild von Jo Schramm: Die Fensterwand hinter der Wohnstube hebt sich, um das private Elend mit der wirbelnden Welt zu verbinden. Die Drehbühne öffnet den Blick in Rasputins holzbehauenes Zimmer voller Ikonen, in den Konferenzraum der Großfürsten, in die spiegelweite Schnee-Einöde der Welt-kriegsfront ... Der Widerspruch zwischen der Schwärze des Zarenzimmers - Ort des Siechens, des Zweifelns, der Agonie - und den handlungssüchtigen Szenerien, die im Hintergrund rotieren, ist mit Händen zu greifen. Ein Widerspruch wie der zwischen Theatersaal und einem Weltmosaik vor den Türen, dessen Teile nicht mehr zusammenpassen.

Nächste Vorstellung: 13.9.

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