Die malerische Erforschung des Inneren
Seelenkorrespondenz in der Galerie Art Cru
Jutta Jentges schafft Werke, die direkt in die Seele eindringen. Mal hellen sie sie auf, wie etwa in der Assemblage »Morgenland«, in der eine warme Sonne über Gesichtern strahlt, die kantig aus dem Bilduntergrund herausbrechen. Oder sie verdüstern das Gemüt wie etwa »Einsam I«; hier ist eine Figur in einem Ring grauer und gelber Elemente gefangen.
Dieser unmittelbare und elementare Zugang sowie der damit verbundene kraftvolle Ausdruck sind in der zeitgenössischen Kunst selten geworden. Oft liegt das Augenmerk auf kritischen Absetzbewegungen zur Vorgängerkunst oder auf Anschlussbewegungen an vergessene und verdrängte Techniken und Ästhetiken. Künstler wollen politisch sein oder haben sich auf exzellent bezahltes Handwerk für Wohn- und Geschäftsambientes spezialisiert. Die malerische Erforschung des Inneren scheint für die Kunst hingegen wieder zur Terra incognita, zu einem vergessenen Territorium geworden zu sein, je stärker sich die Medizin diesem Thema widmete und sich Psychologie und Hirnforschung weiter ausdifferenzierten.
Und so bleibt es seit Jahrzehnten nun schon der sogenannten Outsider Art oder art brut, also der Kunst von Geisteskranken, vorbehalten, Experimente im Menscheninneren vorzunehmen und zu dokumentieren. Jutta Jentges, deren Arbeiten derzeit zum ersten Mal in Berlin in einer umfassenden Ausstellung gezeigt werden, gehört zu diesen Künstlern und Künstlerinnen. Eigentlich gehört sie auch nicht dazu, ist gewissermaßen eine Außenseiterin in der Außenseiterkunst. Denn laut strenger Auslegung gehören hierzu nur autodidaktische Künstler, die an Nerven- und Geisteskrankheiten leiden und ihre kreativen Schübe in nichtakademischer Kunst ausagieren.
Bei Jentges, einer ausgebildeten Künstlerin, sind hingegen Handwerk und auch eine profunde Kenntnis symbolischer Formen erkennbar. Das ist kein Makel, ganz im Gegenteil. Denn Jentges gelingt es, auf eine fast schamanistische Weise Resonanz im Inneren der Betrachter auszulösen. Sie beschreibt ihre Arbeit selbst als eine religiöse Praxis und schonungslose Selbsterkenntnis. Vornehmlich benutzt sie gefundene Materialien wie Holztafeln - die wie ein Echo der kirchlichen Tafelbilder wirken - oder Metallbleche. Letztere nennt sie »Wetterseelen«, weil sie gegerbt sind von Wind und Wetter, von den draußen tobenden Elementen. Holz und Metall werden geformt, geschnitten, bemalt und in Schichten übereinandergelegt. Die reliefartige Anordnung, oft in Stelenform, erinnert an Totempfähle. Einzelne herausgelöste und an anderer Stelle platzierte Elemente haben Anklänge an Kubismus und Surrealismus. Und doch entsteht eine ganz eigene Sprache, die tief hinein in Seelenzustände führt.
Zu ihrem fünften Jubiläum ist der von Nikolai Bultmann und Alexandra von Gersdorff-Bultmann geführten Galerie Art Cru mit dieser Ausstellung ein besonderer Coup gelungen. Denn Jentges’ Arbeiten sind so eigenständig und so souverän, dass man das Erklärungskonstrukt von Krankheit, die sich kreativ Bahn bricht, gar nicht in Anspruch zu nehmen braucht, um diesen Werken einen respektierten Platz im Kunstkosmos zuzuweisen. Schade ist nur, dass trotz der Lage der Galerie im Epizentrum der Mitte-Galerien das Publikum bei der Ausstellungseröffnung sich nur zu geringem Teil aus der benachbarten Kunstszene speiste und vornehmlich aus kunstinteressierten Psychiatriekennern zu bestehen schien. In der Rezeption zumindest scheint die Trennung von Kunstmarkt-Kunst und Outsider Art noch zu bestehen. Dieses Brett zu bohren scheint auch für eine Galerie, die in den fünf Jahren ihrer Existenz einen beachtlichen Kreis an Interessenten gebildet hat, keine einfache Aufgabe. Immerhin war es ihr gelungen, mit vier Künstlern, zwei davon genuine Entdeckungen der Galeriebetreiber, ins Programm der Kunstmesse Preview Berlin (19. bis 22. September) zu gelangen.
Jutta Jentges, bis 16.11., Galerie Art Cru, Oranienburger Straße 27, Di-Sa 12-18 Uhr
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