Die Rückkehr der Eisheiligen

Schreiben als Versuch der Selbstbefreiung: Helga M. Novaks eindrucksvolles Buch »Im Schwanenhals«

  • Fritz Rudolf Fries
  • Lesedauer: 5 Min.

In den sechziger Jahren, wenn ich mich recht erinnere, kam Helga Novak nach Berlin, Hauptstadt der DDR. Wie kam sie durch die Mauer? Die Legenden um ihre Person glichen Sturm und Wind, der einen über jede Mauer trägt.

Am 8. September 1935 in Berlin Köpenick geboren, den Eltern und Zieheltern entlaufen, fand sie in der Partei ihre Mutter, in der Disziplin einer Kaderschule die freiwillig auferlegte Prüfung ihrer renitenten Natur. Ihre autobiographischen Bücher »Die Eisheiligen« (1979) und »Vogel Federlos« (1982) sind die Zeugnisse jener Jahre. Der nun vorliegende Band »Im Schwanenhals« kann als die lang erwartete Fortsetzung ihre Autobiographie gelesen werden.

Die DDR bot der umhegten Studentin der Journalistik in Leipzig, der vielversprechenden, von Georg Maurer geförderten Dichterin am Literaturinstitut eine glänzende Zukunft. Am meisten aber versprach ihr das MfS. Gehörte nicht Wachsamkeit zu den Tugenden einer Genossin? Mit ihr studierte eine muntere Schar junger Isländer, die das Land kennen lernen wollten, das Marx und Engels zu seinen Lehrmeistern erkoren hatte. Doch Vorsicht, waren diese Isländer echt, wo sie doch aus einem Land kamen, das zur NATO gehörte? Die Genossin Novak unterschrieb und wurde zur Geheimen Mitarbeiterin »Renate«. Wenig später protestierte sie gegen diese konspirative Einvernahme und wollte aus der Partei austreten.

Sie heiratet ihren bevorzugten Isländer, zieht mit ihm nach Island, bekommt ihren ersten Sohn - und sehnt sich zurück in das Land ihrer lebenslangen Illusionen und Desillusionen. Ihr Mann, der in Reykjavik Bücher und Zeitungen aus der DDR bezieht und unter seinen Freunden propagiert, hat wenig Zeit für seine Frau, die eine Dichterin, eine Schriftstellerin werden will. Das eingeführte »Neue Deutschland« liest sie begierig wie sonst nie in der DDR.

Es beginnen die Jahre unsteter Reisen in Gesellschaft wechselnder Partner. Die genaue Beobachtung isländischer Landschaft, sizilianischer Gastfreundschaft und Geschäftstüchtigkeit; eine Fußwanderung von Paris nach Barcelona, einmal himmelhochjauchzend und am nächsten Tag zu Tode betrübt, heute im Reichtum erster Honorare schwelgend, um morgen buchstäblich am Verhungern und das Leben eines Landstreichers führen zu müssen, das alles ergibt Kapitel humorvoller Unterhaltung.

Hinzu kommen beeindruckende Schilderungen ihrer Arbeit in einem isländischen Fischkombinat und im Berliner Glühlampenwerk, wo sie ihre »Republikflucht« durch unermüdliche Arbeit wiedergutmachen will. Unterbrochen werden diese Seiten durch Briefe, die sie bekommt und selber, oft am Rande größter Verzweiflung, geschrieben hat. Die Stasi ist ihr »Eckermann«, Akten werden zum Dreh- und Angelpunkt der vorliegenden Erinnerungen.

Der scharfzüngige Spötter und Dichter Kurt Bartsch macht sie mit Robert Havemann bekannt. Die Thesen des Naturwissenschaftlers und Philosophen zum real existierenden Sozialismus und zum Konsumterror des Kapitalismus faszinieren die Dichterin. Wie immer bei ihr kennt Bewunderung keine Tabus. Ihre Liebe zu dem älteren Havemann meint den ganzen Menschen, und als sie gewarnt wird, sie sei nicht die Einzige, die der Philosoph umarme, erinnert ihre Antwort an die Anarchistin Carmen aus Bizets Oper: »Wenn ich dich liebe, was geht’s dich an!«

In den siebziger Jahren, als sie in Frankfurt am Main mit dem todkranken Horst Karasek zusammen lebt, mit den Gedanken der 68er Generation sympathisiert, erinnert ihre erotische Großzügigkeit eher an die Moskauer Jahre eines Majakowski in seinen Beziehungen zu dem Ehepaar Brik -, bevor Stalins Eisheilige den Kleinbürger in der Kunst und in der Familie auf den Sockel hoben. Ein reuvolles Thema, wie ich meine, für künftige Dissertationen über Helga Novak.

Noch aber ist ein Thema vorherrschend: die Dichterin und die Staatssicherheit. Zu bewundern ist, wie radikal sie mit sich selber umgeht. Nie habe sie vergessen oder verdrängt, diese eine Unterschrift freiwillig geleistet zu haben, die sie 1992 der Öffentlichkeit preisgibt. Die Generation ihrer schreibenden Kollegen bietet da ein buntes Bild zögernden Eingeständnisses, das da reicht von Reue, Vergesslichkeit, Neugier auf einen Apparat, der etwa in seiner englischen Spielart noch heute angesehene Schriftsteller und Überläufer beschäftigte.

Dann war da noch eine Trotzhaltung - der Rezensent weiß, wovon er spricht -, sich einem Inquisitor zu beugen, der lediglich den Tatbestand feststellte und den Überführten der gesellschaftlichen Diffamierung überließ, die mancher Wendehals bereitwillig übernahm. In ihrem Herrschaftswissen, wie Helga Novak schreibt, wurde auch über sie das Urteil gefällt, als die Akten zur Verfügung standen. Bequem war es, bei der Gelegenheit ihre »linke Gesinnung« abzustrafen, die sich an ihrer Teilnahme an den Ostermärschen zeigte, an ihrer Solidarität mit der portugiesischen Nelkenrevolution, an ihren Illusionen einer DDR, von der der in Ungnade gefallene Havemann, der ausgebürgerte Biermann geträumt hatten. Würde ein kommender Mai die Rückkehr der Eisheiligen verhindern?

Ihre Geschichte, so meint die Dichterin, wenn sie von Angst und Enttäuschung verfolgt wird, gleicht jenem Schwanenhals, der in der Jägersprache die Falle meint, die ein Tier bis in den Tod festhält, es kann sie nicht abschütteln, es sei denn, es beißt sich die Pfote ab, die in die Falle geriet. Schreiben ist ein Versuch der Selbstbefreiung, und die braucht die Anteilnahme des Lesers. Wir haben allen Grund, Helga Novak für dieses Buch dankbar zu sein.

Helga M. Novak: Im Schwanenhals. Verlag Schöffling & Co.280 S., geb., 19,95 €.

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