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Zielstrebig in Trippelschritten

Ska Keller will in Brüssel die Welt verändern - ein Besuch bei der Europaabgeordneten

  • Katharina Strobel, Brüssel
  • Lesedauer: 7 Min.
Bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Mai will Ska Keller als Spitzenkandidatin der Grünen ins Rennen gehen.

Ihr erster Satz verrät viel über Ska Keller: »Da sitzt sonst die Praktikantin«, sagt sie, als die Reporterin ihr gegenüber an dem schmalen Schreibtisch Platz nimmt. Abgeordnete und Praktikantin direkt auf Augenhöhe, Hierarchien passen nicht in die zwei kleinen Zimmer von Keller. Hier arbeiten sie und ihre Mitarbeiter daran, die Welt nach ihren Maßstäben zu verbessern, egal welchen Alters oder Geschlechts sie sind und welchen Jobtitel sie haben - und das mit möglichst wenig Kompromissen und lieber schneller als langsamer.

Es gab eine Zeit, da galt das Europäische Parlament als Abstellgleis für ausgediente Politiker. Noch in den 90er Jahren nahm kaum einer die Volksvertreter in Brüssel und Straßburg wahr. Spätestens seit dem Vertrag von Lissabon, der im Dezember 2009 in Kraft trat, seit das Parlament dem Ministerrat in den meisten Politikbereichen gleichgestellt ist und mitentscheidet, zieht es aber Personen wie Ska Keller in eine der Schaltzentralen der EU. »Hier kann man auch als kleine Fraktion etwas bewegen«, ist Keller überzeugt.

An diesem Morgen trägt die Brandenburgerin ein blau-grau gestreiftes Baumwollshirt, eines der Sorte, das Eltern gerne ihren Kindern anziehen: praktisch und bequem. Dazu eine Jeans und diesen Kurzhaarschnitt, der auch sitzt, wenn man Nächte in Zügen verbringt, was bei der umweltbewussten Grünen nicht selten vorkommt. Flink und zielstrebig durch Scharen von Anzugträgern und Kostümträgerinnen bewegt sie sich im Brüsseler Parlament. Nebenher eilt die Assistentin und übermittelt schnell noch die letzten Details zum Thema Personenkontrolle an den EU-Außengrenzen. Denn dazu spricht Keller an diesem Morgen im Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, in dem sie für die Fraktion der Grünen/Europäische Freie Allianz als stellvertretendes Mitglied sitzt.

Es kommt vor, dass die Saaldiener der 31-Jährigen auf die Schulter tippen und ihr zuflüstern, der Platz, auf dem sie sitze, sei für die Abgeordneten reserviert. Dann lächelt sie freundlich und flüstert zurück: »Ich bin Abgeordnete.« Für eine Praktikantin gehalten zu werden, stört Keller nicht. Spätestens, wenn sie ihr Mikrofon anknipst und ihre Ansichten klar und deutlich aus den Lautsprechern dringen, sind alle Zweifel aus dem Weg geräumt. »Italien bittet die EU in der Flüchtlingsfrage um Hilfe. Da ist es nicht akzeptabel, dass es die Hilfe hinten herum im Ministerrat blockiert.« Aus Kellers Worten spricht eine Überzeugung für die Sache und eine Sicherheit, sich für das Richtige stark zu machen.

Das ist bei Ska Keller schon immer so gewesen. Zum Beispiel in der Grundschule, als ihre Mitschüler aus ihrem Geburtsnamen Franziska »Franzi« machen. »Aber eine Franzi war ich nicht«, wusste Keller schon damals, »das schien mir zu verniedlicht. Übrig blieb dann Ska.« Drei Buchstaben - kurz, markant, eigen. So entwickelt sich Kellers Persönlichkeit denn auch zu einer Mitbürgerin, die einschreitet, wenn sie Unrecht sieht. In ihrer Heimatstadt Guben, zweigeteilt in eine deutsche und eine polnische Hälfte, sind in den 90ern Rassismus und Xenophobie weit verbreitet. Mit der Tötung des 28-jährigen Farid Guendoul aus Algerien 1999 erreichten sie ihren schockierenden Höhepunkt.

»Darauf wollte ich reagieren«, sagt Keller, damals 18 Jahre alt. Sie gründete den Verein Guben-Gubin e.V. gegen Fremdenfeindlichkeit, zusammen mit anderen jungen Leuten aus Guben und dem polnischen Gubin. Auch das ist ungewöhnlich für das Städtchen: dass jemand seinen Blick nach Osten richtet und die Hand über die Neiße hinüberstreckt. »In Guben ist das Gefühl verbreitet, der Osten höre hier auf«, beschreibt Keller die Lage. Kaum einer spreche Polnisch und nur wenige Menschen nutzten die Gelegenheit, das Land über die billigen Läden und Märkte hinaus kennenzulernen.

Die geteilte Welt von Guben hat Ska Keller hinter sich gelassen. Sie sieht sich als europäische Abgeordnete. Sie will für die Menschen in ihrem Wahlkreis genauso gute Politik machen wie für die Spanier, die Schotten oder die Skandinavier. Ihr Mann ist Finne, sie selbst spricht neben Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Türkisch auch Katalanisch und hat Kurse in Arabisch, Hebräisch sowie Polnisch belegt. Sie fühlt sich überall da zu Hause, wo sie gerade ist. Und Keller ist viel unterwegs: in Brüssel, Straßburg, ihrem Wahlkreis, der die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg umfasst, in anderen Teilen Europas und darüber hinaus.

Auf ihren Reisen begegnen der studierten Islamwissenschaftlerin sowie Judaistin Armut und Reichtum, Alte und Junge, zudem das ganze Spektrum der europäischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Kulturen und Sprachen. Mehr von dieser Vielfalt will Keller im Europarlament sehen. Vor allem junge Menschen, die die Reihen ihrer Kollegen, die vom Alter her größtenteils ihre Eltern sein könnten, aufmischen und eine wahrhaftigeres Abbild der Realität schaffen. »Schön und gut, wenn es Jugendparlamente gibt«, so Keller, »aber wichtig ist, dass die Jugend ihre Stimme auch da einbringen kann, wo Gesetze entschieden werden.«

Auch deshalb hat die Europäische Grüne Jugend sie unter dem Motto »Ska for Europe« in den Urwahlen für das Amt des bzw. der KommissionspräsidentIn nominiert. Mit ihr erhoffen sie sich eine Spitzenkandidatin, die sich für ihre Belange einsetzt, allen voran für das Problem der hohen Jugendarbeitslosigkeit in weiten Teilen Europas. »Die Eurokrise trifft am härtesten eine Generation, die die Krise nicht verursacht hat, aber jetzt ihre Folgen ausbaden muss«, sagt Keller. Sie will sich für Investitionen in Jobs mit Perspektive stark machen, im Bereich der Erneuerbaren Energien oder im Bildungswesen zum Beispiel.

Doch auch ganz grundlegende Fragen beschäftigen Keller. »Für mich ist die Frage nach der Zukunft der EU nicht die Frage nach mehr oder weniger Europa. Wir müssen gucken, wo Europa Sinn macht.« Klar sei, dass Brüssel nicht über jeden Fahrradweg entscheiden sollte.

Keller vertritt ihre Fraktion, der zwölf weitere deutsche Grüne angehören, auch im Ausschuss für internationalen Handel, der sich zur Zeit mit dem geplanten Abkommen zwischen der EU und den USA (TTIP) beschäftigt. Solchen Verträgen steht Keller grundsätzlich skeptisch gegenüber: »Man sollte bei jedem Abkommen fragen, was das für den Wohlstand, die Menschrechte und Arbeitsplätze tut. Und zwar nicht nur für die Menschen innerhalb der EU, sondern auch die, die darüber hinaus von unserer Politik betroffen sind.«

Immer wenn Schwächere nicht zu ihren Rechten kommen, erhebt Ska Keller ihre Stimme. Die Welt besser machen, nichts weniger ist ihr Ziel. Dafür nimmt Keller viel Arbeit auf sich. Mehr als 80 Stunden pro Woche im Dienst zu sein, ist für sie keine Seltenheit. Dass sie ihre Ziele erreichen kann, habe sich in der kurzen Zeit, in der sie Abgeordnete ist, erwiesen. »Wir trippeln in kleinen Schritten«, sagt sie. »Aber dabei bewegen wir was.« Auf ihr Drängen, beispielsweise, gebe es jetzt einen Beauftragten für Menschenrechte bei Frontex, der Agentur zur Sicherung der EU-Außengrenzen.

Aber Keller ist keine Traumtänzerin. »Man muss Kompromisse eingehen in der Politik«, gibt sie zu. Bei jeder Abstimmung stelle sie sich daher erneut die Frage: »Kann ich Menschen damit zu einem besseren Leben verhelfen, ohne dass andere einen Nachteil erfahren?« Könne sie die Frage mit ja beantworten, stimme sie zu, wenn auch oft mit Bauchschmerzen. Auch weil solche Entscheidungen oft schwer nach außen zu vermitteln sind. »Ich verstehe, dass die Menschen in den Wahlkreisen die Politik in Brüssel nur schwer nachvollziehen können.« Das solle aber nicht so bleiben, weshalb Keller auf mehreren Ebenen versucht, den Parlamentsalltag zu erklären - im persönlichen Gespräch genauso wie im Internet über ihre Webseite oder den Kurznachrichtendienst Twitter. »Ich würde gerne mal ins Büro kommen und nicht mit ›Es gibt da ein Problem‹ begrüßt werden.. Stressburg«, schrieb sie dort etwa in der vergangenen Woche, als Ausschuss- und Plenumstermine zusammenfielen und vor dem EU-Gipfel mehrere wichtige Entscheidungen anstanden.

Als Franziska Keller im November 1981 auf die Welt kam, bestand die Europäische Union oder Europäische Gemeinschaft, wie sie damals noch hieß, aus zehn Mitgliedsstaaten. Die Welt befand sich im Kalten Krieg. Heute sind 28 Staaten in der EU, Kellers Geburtsland, die DDR, ist von der Landkarte verschwunden. Von Stillstand kann jedoch auch heute keine Rede sein. »Es ist alles in Bewegung«, sagt Keller. Wie die Zukunft Europas aussehen wird, kann sie nicht sagen. Der Ausgang der Europawahl im Mai 2014 wird auf diese Frage aber eine entscheidende Antwort geben. Vor diesem Hintergrund kann und wird jeder einzelne Abgeordnete ein Stück weit die Welt verändern.

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