Vom kranken Mann zum Musterschüler

Wie sich Deutschlands Rolle in Europa wandelte

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 3 Min.

Deutschland gilt heute als Musterschüler in Europa. Während der halbe Kontinent in Massenarbeitslosigkeit und Rezession versinkt, sprudeln in der Berliner Republik die Steuereinnahmen, und die Beschäftigung ist - zumindest offiziell - auf Rekordniveau.

Doch dies war nicht immer so: Im Juni 1999 bezeichnete die britische Wirtschaftszeitung »The Economist« Deutschland noch als den »kranken Mann Europas«. Damals lag die Arbeitslosigkeit hierzulande bei rund zehn Prozent und in den neuen Bundesländern war sie mit 16,5 Prozent ungefähr so hoch wie zurzeit im Krisenland Portugal. Zudem hatte die Bundesrepublik zwei Jahre vor dem Jahrtausendwechsel bei der Staatsverschuldung die einst magische Grenze von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung überschritten. Diese Marke war als eines der Konvergenzkriterien im Zuge der Verträge von Maastricht eingeführt worden.

Aus EG wurde EU

Mit der Einigung auf den Vertrag über die Europäische Union wurde die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit auf dem Kontinent auf eine neue Stufe gehoben. Doch darum musste hart gerungen werden. Die Staats- und Regierungschefs der damals zwölf Mitgliedsländer hatten keine Zeit, die Unterzeichnung des Abkommens am 7. Februar 1992 in der niederländischen Stadt Maastricht zu feiern. Bis zum Inkrafttreten des Vertrages am 1. November 1993 vergingen Monate zäher Verhandlungen, auch die Abspaltung der sechs Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) stand zur Debatte. Gegen die mit Maastricht verbundenen Ziele, allen voran die Währungsunion sowie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, gab es großen Widerstand der Nationalstaaten.
Schließlich konnte der Vertrag aber in Kraft treten und mit ihm umfassende Änderungen der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften, also des EG-Vertrags, des EURATOM-Vertrags und des damals noch in Kraft befindlichen EGKS-Vertrags. So kam es auch zur Namensänderung: Aus der Europäischen Gemeinschaft (EG) wurde die Europäische Union (EU).
Der Maastricht-Vertrag sah eine erhebliche Ausweitung der Zuständigkeiten der EU vor. Das Subsidiaritätsprinzip wurde als allgemeiner Grundsatz normiert. Der Vertrag sollte den Übergang von einem wirtschaftlichen zu einem wirtschaftlichen und politischen Projekt ebnen. Zu den Hauptzielen zählte daher auch die Einführung der Unionsbürgerschaft mit dem Recht auf Freizügigkeit und dem aktiven wie passiven Kommunalwahlrecht am jeweiligen Wohnsitz.
Die Gemeinschaftswährung sollte in drei Etappen eingeführt werden. Dafür wurden Konvergenzkriterien (Maastricht-Kriterien) festgelegt. Die Vorgaben, den staatlichen Schuldenstand nicht höher als 60 Prozent und das jährliche Haushaltsdefizit nicht mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen zu lassen, sollten kritische Punkte werden: 2007 konnten 25 der damals 27 EU-Staaten die Maastricht-Kriterien nicht mehr erfüllen. nd

Damit sollte im Rahmen der Schaffung der Währungsunion gewährleistet werden, dass sich die Wirtschaftsleistungen der Mitgliedsländer anglichen. Ähnlich wie bei der heutigen Krisenpolitik konzentrierten sich Europas Staatschefs dabei weniger auf soziale Gerechtigkeit und die Schaffung von Beschäftigung als vielmehr auf Haushaltskonsolidierung und Preisstabilität. So durfte die Neuverschuldung nicht mehr als drei Prozent betragen. Und auch dieses Kriterium konnte Deutschland mehrfach nicht einhalten.

Was ist passiert, dass Deutschland jetzt nicht mehr als alter Mann, sondern als Musterschüler Europas gilt? Die Antwort verbinden viele mit einer Person: dem Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). In seiner Regierungserklärung am 14. März 2003 rief er zum »Mut zur Veränderung« auf. Was er damit ankündigte, war nichts anderes als der komplette Umbau der Sozialsysteme und die Einführung von Hartz IV mit der Agenda 2010. Dabei hatte Schröder auch die Rolle der Berliner Republik in der EU im Blick. Denn die Reformen sollten auch eingeführt werden, um der »deutschen Verantwortung in und für Europa gerecht zu werden«, wie Schröder damals betonte.

Ob der Grund für Deutschlands Stärke in der Eurokrise tatsächlich in der Agenda 2010 liegt, ist indes umstritten. Das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung etwa erklärte anlässlich des zehnten Jubiläums von Schröders Rede, dass der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg vielmehr in den Konjunkturpaketen nach dem Ausbruch der Finanzkrise lag. Zumindest führten die Reformen jedoch dazu, dass die Reallöhne in den Jahren danach erst einmal fielen. Deutschlands Wirtschaft erhielt so einen Wettbewerbsvorteil und gerade die Exporte ins europäische Ausland nahmen zu.

Nicht alle in Deutschland profitieren von den Reformen. Mehr als ein Fünftel der Arbeitnehmer ist mittlerweile Zeitarbeiter oder geringfügig oder befristet beschäftigt. Und vor allem die SPD konnte sich bis jetzt noch nicht von der Agenda 2010 erholen. Ein Jahr nach ihrer Einführung wurde Gerhard Schröder knapp abgewählt, 2009 büßte die Partei dann sogar elf Prozent an Wählerstimmen ein.

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