Konfrontation mit Opfern, Tätern, Zeitzeugen

Werkschau des Schweizer Theaterkünstlers Milo Rau in den Sophiensälen

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Nachahmen bringt Erkenntnisgewinn. Das zeigt die Reenactment-Werkschau »Die Enthüllung des Realen« des Schweizer Theaterkünstlers Milo Rau in den Sophiensälen. Zwar rümpft man hierzulande gern die Nase über immerfort nur »kopierende Chinesen«. Vergessen wird, dass wir ohne die Kulturtechnik der Nachahmung weder Laufen, Schwimmen, noch Radfahren könnten, geschweige denn unsere Muttersprache erlernt hätten. Wer Raus Realitätsnachbauten erlebt, hat noch einen besonderen Erkenntnisgewinn.

Das zeigt sich besonders an »Die letzten Tage der Ceausescus«. Sich an den Fernsehbildern über die Verurteilung und Hinrichtung Nicolae und Elena Ceausescus orientierend, die sich in ihrer Kargheit ins globale Mediengedächtnis eingeprägt haben, baute Rau den Prozess selbst nach. Er ließ durch verschiedene Interviewpartner zudem die Dezembertage des Jahres 1989 in Bukarest, Temesvar und der Kaserne von Targoviste wiedererstehen. Ein junger Rumäne, zur Zeit der Exekution Ceausescus neun Jahre alt, wunderte sich rückblickend über die Freude seiner Eltern. »Aber ihr habt doch immer gesagt, dass er gut war«, sagte er ihnen verwundert. Ana Blandiana, Dichterin, Regimekritikerin und kurzzeitig Mitglied des Rats der Front zur Nationalen Rettung, erinnerte sich an das Chaos in dieser provisorischen Regierung. Victor Stanculescu, der General, der den Prozess gegen die Ceausescus organisierte und der in der Folgezeit Wirtschafts- und Verteidigungsminister war, war bei dem Reenactment als Gefangener anwesend. Er sitzt eine 15-jährige Haftstrafe ab, weil er vor seinem Seitenwechsel noch Demonstranten erschießen ließ. Rau zufolge führte der nachgespielte Prozess dem Bukarester Publikum vor Augen, »was 20 Jahre lang schiefgelaufen« sei. »Man hatte vorher nie gezeigt, wer bei dem Prozess dabei war. Jetzt sah man die damalige zweite Garde, die heute in der Regierung sitzt«, so Rau gegenüber »nd«.

Überhaupt macht die Konfrontation der Rekonstruktion historischer Vorgänge mit einstigen Opfern, Tätern und Zeitzeugen die Qualität seiner Arbeiten aus. Bei der ruandischen Aufführung von »Hate Radio«, einer Rekonstruktion eines Radiosenders, der zwischen Popsongs und Debatten über die Erhöhung von Lebensmittelpreisen seine Zuhörer offen am Mord an der Tutsi-Bevölkerung aufrief, sagten Besucher: »Genauso war es.« Und bei den »Moskauer Prozessen«, einer Re-Inszenierung von Verfahren gegen Ausstellungsorganisatoren sowie die feministische Punkband »Pussy Riot« wegen vermeintlicher Verhöhnung der Religion, brachte Rau erstmals die orthodoxen Aktivisten, die eine Todesstrafe der Bandmitglieder forderten, mit einer der Musikerinnen in einem Raum zusammen.

Beim Installationsparcours ist die Brisanz der Begegnung vor Ort leider nur zum Teil zu spüren. Während man in den Ceausescu-Film geradezu hineingezogen wird und den Glaskasten von »Hate Radio« wie eine seltsame Kultstätte umschreitet - und dabei noch die Stimmen der abwesenden Moderatoren wie Geisterstimmen im Kopfhörer hat -, entfaltet sich die Besonderheit der »Moskauer Prozesse« trotz nachempfundener Gerichtssituation nicht. Immerhin kann man am Samstagabend auch in Berlin eine direkte Konfrontation erleben. Unter dem Titel »You will not like what comes after america« diskutiert Rau ab 20.15 Uhr in der Schweizerischen Botschaft mit zahlreichen Gästen über die Zeitgemäßheit des Begriffs »Genozid«. Er legt Wert auf die Feststellung, dass die Debatte in dem Haus stattfindet, in dem in den 1930er Jahren der sogenannte »Judenstempel« entwickelt wurde. Mal sehen, was vom Genius Loci noch zu spüren ist.

Sophiensäle, »Die Enthüllung des Realen«, 9.11., 16 Uhr

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