Vor 125 Jahren starb Fjodor Dostojewski. Fragen an den europäischen Menschen
Gunnar Decker
Lesedauer: 9 Min.
Natürlich war ihm Tschechow näher als Dostojewski. In Tschechow erkannte Thomas Mann sich selbst. Ein letzter Bürger mit Hang zur Kunst, die Aufklärung - auch die Russlands - trotz der dunklen Schatten, die sie warf, über alle Unaufgeklärtheit stellend: »In mir fließt Bauernblut, und mit Bauerntugenden setzt man mich nicht in Erstaunen. Ich habe von Kindheit fest an den Fortschritt geglaubt und konnte gar nicht anders, weil der Unterschied zwischen der Zeit, da man mich prügelte, und der Zeit, da man mit Prügeln aufgehört hat, schrecklich groß ist.« (Tschechow an A.S. Suworin, 27.3.1894)
Das ist klar und deutlich, beste europäische Gesinnung, das verstehen wir. Aber verstehen wir auch Dostojewski, der vor 125 Jahren starb? 1945 schreibt Thomas Mann die Einleitung zu einer amerikanischen Dostojewski-Ausgabe. Aus diesem Text spricht eine große Irritation, Ablehnung mischt sich mit Faszination. Dieser Russe ist uns einerseits ganz nah und andererseits völlig fremd. Mit ihm sind wir noch lange nicht fertig - aber er vielleicht längst mit uns? Thomas Mann sah das »tiefe, verbrecherische Heiligenantlitz Dostojewskis« und erkannte darin »die dunkle, der Sonne abgewandte Seite, die Wahrheit, die niemand vernachlässigen darf, dem es um Wahrheit überhaupt, die ganze Wahrheit zu tun ist, die Wahrheit über den Menschen«.
Und weiter, die »gequälten Paradoxe«, die Dostojewski »seinen positivistischen Gegnern« entgegenschleudere, seien »dennoch, so antihuman sie klingen, im Namen der Menschheit und aus Liebe zu ihr gesprochen: zu Gunsten einer neuen, vertieften und unrhetorischen, durch alle Höllen des Leidens und der Erkenntnis hindurchgegangenen Humanität«.
Von der Frage kommen wir beim Lesen Dostojewskis keinen Moment los: Was ist der Mensch, wozu ist er fähig, im Guten und im Bösen? Nietzsche nannte Dostojewski den »tiefsten Psychologen der Weltliteratur«, aber was sagt das über den Menschen Fjodor Dostojewski? Geboren wurde Dostojewski 1821 in Moskau, 1881 starb er in Petersburg. Allein die beiden Ortsnamen zeigen, wie tief der Riss durch Russland selber - bis heute unvermindert - geht und den der hyperempfindliche Dostojewski so elementar spürte, »als ob man ihm die Haut abgezogen hätte und schon die bloße Luft ihm Schmerz verursachte«, wie er in seinen »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch« schrieb.
Petersburg, die westlich geprägte Metropole, und Moskau, die östliche. Es ist das westlich-aufgeklärte Erbe (Peter der Große, Katharina die Große), das Russland seit Jahrhunderten ebenso prägte wie die russische orthodoxe Kirche, ihre Inbrunst und Gewalt (Iwan der Schreckliche). Es gibt also bis heute zwei Kulturen und zwei durch diese geprägte Mentalitäten in Russland, die miteinander um das Bild des »wahren Russlands« konkurrieren: die Strömung der Slawophilen und die der Westler. Dostojewski hat wie kein anderer diesen lang andauernden Streit um die »russische Seele« thematisiert, wie die Westler sagen würden, durchlitten, wie es die Slawophilen ausdrücken würden.
Wenn es eine Überwindung dieser gegenseitigen Fremdheit, ja sogar Feindschaft, geben kann, dann liegt ihr Schlüssel vielleicht schon im Werk dessen verborgen, der diesen Zustand innerer und äußerer Zerrissenheit so präzise wie keiner vor und keiner nach ihm zu schildern vermochte. Allein der Streit um die deutsche Übersetzung seiner Buchtitel nimmt Formen eines Kulturkampfes an. Soll man nun »Schuld und Sühne« sagen oder »Verbrechen und Strafe«? Für letzteres streitet die Übersetzerin Swetlana Geier. Bei Raskolnikow sei keine Sühne, und auch beim Wort Schuld beginnt für sie schon die mythische Verneblung eines simplen Verbrechens, wie der Totschlag aus Habgier nun einmal eines ist.
So kann man es sehen, aber natürlich kann man es auch ganz anders sehen, die technokratische Sachlichkeit von »Verbrechen und Strafe« als unangemessen ablehnen. Will uns denn Dostojewski, wie Thomas Mann meint, tatsächlich den »größten Kriminalroman aller Zeiten« darbringen, oder ist dieser bloß das Nebenprodukt einer ganz anderen philosophischen Geschichte, die des Absterbens einer Seele - und Raskolnikow als erster moderner Nihilist?
Woran Dostojewski litt, wird zum Leitthema seines Werks: »Verlorene Illusionen«. So heißt auch ein Roman Balzacs, den Dostojewski so wichtig nahm, dass er ihn ins Russische übersetzte. Auch sein eigenes Leben ist ein Abfolge verlorener Illusionen. Sohn eines Armenarztes, wurde er Ingenieur, war im Festungsbau beschäftigt - um mit dreiundzwanzig Jahren abrupt diese bescheidene bürgerliche Sicherheit aufzukündigen und freier Schriftsteller zu werden - und damit völlig mittellos. Sein Erstling, 1845 veröffentlicht, heißt dann auch »Arme Leute« - ein schockierendes Bild elenden russischen Alltags, in dem Leidenschaften buchstäblich Leiden schaffen.
Auch formal ist dieser Briefroman ein ungewöhnlich mutiger Auftritt. In diesen Jahren, die Dostojewski in Petersburg in äußerster Armut verbringt, steht er den vom utopischen Sozialismus geprägten Demokratiebewegungen nahe; den russischen Bürgerrechtlern des 19. Jahrhunderts um Nekrassow und Belinskij. Man fordert vom Zaren elementare bürgerliche Grundrechte und klagt die Verpflichtung des Staates ein, seine weniger priviligierten Bürger nicht verhungern und an heilbaren Krankheiten sterben zu lassen; man kämpft gegen Leibeigenschaft und Analphabetentum, denn in all diesen Dingen liegt Russland in Europa weit zurück.
Als sich Dostojewski in den Kreis um den dissidentischen Publizisten Petraschewski begibt, wird er 1849 verhaftet und zum Tode verurteilt. Man lässt sich mit seiner Begnadigung Zeit bis zum letzten Moment. Erst als die Gewehre des Exekutionskommandos schon auf ihn - im weißen Totenhemd am Pfahl stehend - gerichtet sind, wird der Begnadigungsbefehl verlesen.
Von diesem Schock hat sich Dostojewski nie mehr erholt. Danach verschoben sich Koordinaten. Nicht, dass er gebrochen gewesen wäre, ihn der Mut verlassen hätte, das nicht. Aber die bloß politische Aktion, die allein auf die soziale Verbesserung setzt, das erschien ihm nun zu wenig. Ohne die Seele ist alles nichts, und die Frage nach Gott kann man als sterblicher Mensch nicht durchstreichen.
Diese Gewissheit verstärkt sich während seiner vierjährigen Zwangsarbeit und noch mal vierjährigen Militärdienstes als einfacher Soldat in Sibirien. Der Schrecken dieser langen Verbannungs-jahre ergreift einen immer noch, wenn man seine »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« liest. 1854 wird er aus Omsk in einem Brief schreiben: »Es sind nun schon bald fünf Jahre, in denen ich inmitten einer Menschenmenge lebe und keine einzige Stunde allein war. Allein zu sein, ist ein normales Bedürfnis wie Essen und Trinken, andernfalls wird man in diesem aufgezwungenem Kommunismus zu einem Menschenhasser. Die Gesellschaft von Menschen wirkt wie Gift oder eine ansteckende Krankheit und das bereitet eine unerträgliche Qual ... Das schlimmste Unglück ist, selbst ungerecht, böse und widerwärtig zu werden; man erkennt das und macht sich sogar Vorwürfe - und kann doch nicht aus seiner Haut.«
Im selben Brief steht jener Satz, an dem sich die Geister bis heute scheiden. Ein Satz, der nur erklärbar wird, wenn man die seelische Ausnahmesituation Dostojewskis in diesen Jahren sieht: »Wenn mir jemand die Existenz Christi jenseits der Wahrheit bewiese, tatsächlich aber die Wahrheit von Christus unabhängig ist, zöge ich Christus der Wahrheit vor.«
Was meint das? Selbsterlösung ist nicht möglich, alle Revolution führt nur wieder eine Restauration herauf. Ein neuer Mensch ist einer, der von einem neuen Geist beseelt ist. Jesus ist ihm dieser neue
Mensch, ein Genie des Leidens, einer, der sich klaglos anderen opfert. Erlösung aus dem Elend, das ist für Dostojewskis nun zuerst eine religiöse Frage, dann erst eine politisch-soziale. Er läuft nicht auf die Seite der Herrschenden über, aber er verbündet sich mit denen, die für ihn Gegner bleiben. Einerseits nimmt er Partei für den »Großinquisitor«, den Oberprokuror des Heiligen Synod Pobedonoszew, andererseits für den radikalen Demokraten Nekrassow.
Eine paradoxe Situation. Aber eine für Dostojewski bezeichnende. Lieber Unrecht leiden als Unrecht tun, das versinnbildlicht sein »Idiot« Fürst Myschkin, dieser »Narr in Christo« mit einer Künstlerseele, also auch exzentrisch, auch ungerecht. Für die billigen, die simplen Lösungen ist Dostojewski nicht mehr zu haben - und auch nicht für das deutsche Gegenbild zu Myschkin, Kleists Michael Kohlhaas, diesem aus erfahrener Kränkung im ständigen Vorwärtsgang begriffenen Prototyp eines idealen Rechtsschutzversicherungskunden.
Was ist uns noch heilig? Diese antiquierte Frage empfindet Dostojewski in einer von ihm erlebten Welt schnödesten Kapitalismus und lediglich politischer Schadenvermeidungsideologien als zeitgemäß. Welchen Sinn hat menschliche Existenz? Bei der Beantwortung dieser Frage macht es sich Dostojewski nicht einfach. Aber so stark der Autor, so schwach - in mancher Hinsicht - ist der Mensch. Ein hoffnungsloser Spieler und notorischer Geldvergeuder, darin dem von ihm bewunderten Balzac ähnlich. Doch auch aus seinen Baden-Badener Spielexzessen wird am Ende wieder nur eins: Weltliteratur. Seinem Bruder schrieb der junge Dostojewski: »Der Mensch ist ein Geheimnis. Man muß es ergründen, und wenn man sein ganzes Leben darauf verwendet ...«
Er hat sein Leben darauf verwendet, dieses Geheimnis zu lösen. Es misslang auf fruchtbringende Weise, wohl, weil er sich selbst ein Geheimnis blieb. Auch was sein Verhältnis zur »russischen Seele« betraf, schlugen immer zwei Seelen in seiner Brust. Sein Werk dokumentiert den Abnutzungskampf, den sie gegeneinander führten. Er ist »Westler« wie auch »Slawophiler« geblieben.
In Russland diskutiert man heute wieder die »russische Seele«, meist mit orthodoxem und nationalistischem Hintergrund. Eine Jahrhundertdiskussion, die geführt werden muss. Gehört Russand zu Europa? Zur Hälfte schon immer. Aber ganz? Und was wäre dieses Ganze - eine völlige Verwestlichung? Zu besichtigen ist in Dostojewskis Roman »Die Brüder Karamasow« die Zerstörung einer Familie - wie bei Thomas Manns »Buddenbrooks«. Iwan, Dimitri und Aljoscha sind aus verschiedener Weltanschauung einander fremd gewordene Brüder.
Der Grunddissens: Die Slawophilen halten die aufklärerischen Prinzipen Individualität und Fortschritt für einen Angriff auf das tradiert Russische, das Gefühl eines unsichtbar wirkenden Gemeinsamen - die »russische Idee«, oder »sobornost«. Ist die slawophile Vision von der »Biene im Schwarm«, als die sich der Einzelne fühlen soll, bloß die allzu kurzschlüssig gedachte kehrseitige Konsequenz kalt-bürgerlicher Vereinzelung? Birgt das Schild der »sobornost« ein Wesen, das die zahlreichen alten und neuen Verletzungen heilen hilft, oder ist es ein Verwesendes, massenpsychologischer Ausfluss des Totalitarismus?
In seiner zweiten, der orthodox-christlichen Lebenshälfte wurde Wladimir Solowjow (den sinnigerweise die hiesige Akademiezeitschrift »Sinn und Form« seit Jahren in gleichsam rituellen Fortsetzungen druckt!) zu einem wichtigen geistigen Bezugspunkt. Er hat uns eine »Kurze Erzählung vom Antichrist« (1900) hinterlassen, das Einschwören christlicher Völker gegen die Truppen des Teufels. Damit ist sowohl die Aufklärung des Westens als auch das unchristliche Asien gemeint. Solowjow: »Panmongolismus! Wort der Schrecken!/ Doch mir gefällt der wilde Klang,/ als wolle Gott uns nun entdecken/ des letzten Schicksals schweren Gang.«
So schreibt er am 1. Oktober 1894 im Gedicht »Panmongolismus«, einer Adaption der Johannes-Apokalypse. Im Vorwort seiner »Drei Gespräche über den Antichrist« heißt es: »Wenn ich es auch für unmöglich halte, daß der Krieg überhaupt vor der endgültigen Katastrophe aufhört, so sehe ich in der engsten Annährung und friedlichen Zusammenarbeit aller christlichen Völker und Staaten nicht nur einen möglichen, sondern den notwendigen und sittlich verpflichtenden Weg, den die christliche Welt gehen muß, um nicht von niederen, elementaren Kräften verschlungen zu werden.« Bei so viel Pathos wird die Ironie für den Geist überlebensnotwendig.
Andrej Bely und die Symbolisten haben mit solcherart Seelen-Konversion bereits vor langer Zeit ihr geistvolles Spiel getrieben. Alexander Block hat darin mit Recht einen Anschlag auf das Heroische gesehen und einen Aufsatz über die Gefährlichkeit der Ironie geschrieben. Davon ist Blocks von christlichem Erlösungspathos vorangepeitschtes Revolutionsepos »Die Zwölf« (1918) dann auch vollständig frei.
Auf Dostojewski kann sich dieser Aufstand nationaler Ur-Gefühle nicht berufen. Seine drei Brüder Karamasow sind ein Gleichnis auf jene Widerspruchskonstellation russischer Identität, die immer noch gültig erscheint: Dimitri, der rauschhaft-eruptiv Selbstzerstörerische, Iwan, der rational-Westliche und Aljoscha, der religiöse und seelenvoll-Empfindsame. Nicht einer triumphiert, jeder weiß sich auf seine Art legitimiert.
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