- Politik
- Vor 20 Jahren starb Jean-Paul Sartre
Gespaltenes Gewissen
An die 50 000 Menschen gaben dem Mann in seiner Heimatstadt Paris die letzte Ehre, der wie kein anderer die intellektuelle Vorherrschaft in Frank reich und in der ganzen westlichen Welt nach dem Zweiten Weltkrieg ausgeübt hatte. Aber seine politischen und historischen Irrtümer haben ihn ein- und über holt. Länger als intellektuell redlich gewesen wäre, hat Jean-Paul Sartre die Ver brechen des Stalinismus ignoriert, einem real praktizierten Sozialismus noch die Treue gehalten, als das nicht mehr zuträglich war, und sich schließlich, als der Widerspruch zwischen Marxismus und Machtausübung immer unüberbrückbarer geworden war, auf die Unterstützung linkssektiererischer Gruppen verlegt. Als er starb, war abzusehen, dass er politisch in wesentlichen Punkten widerlegt war.
Haben wir in Sartre eher den Philosophen, den Literaten oder den politisch wirkenden Zeitgenossen zu würdigen? Sein philosophisches Hauptwerk ist sein 1943 während der deutschen Besatzung von Paris vollendetes, stark von Heidegger und dessen Lehrer Husserl beeinflusstes Buch «Das Sein und das Nichts». Es for muliert im Wesentlichen das, was fortan als Philosophie des Existenzialismus gelten sollte. Der Einfluss Hegels auf die dialektischen Formulierungen Sartres ist unübersehbar. Sartres Philosophie ist eine Konzentration auf die existenzielle Freiheit und die mit ihr korrespondierende Verantwortung zur Seinsverwirklichung. Philosophische Wellen sind nach seinem Tode auf die von uns Menschen bewohnten Gestade zugerollt und haben neue Ablagerungen hinterlassen.
Der Literat Sartre wird auf den Bühnen ›der Welt immer noch gespielt. «Die Fliegen», ein existenzialistisches Stück, das den antiken Stoff um Elektra und Orest nur zum Vorwand nimmt, oder «Geschlossene Gesellschaft», das im besetzten Paris noch nach der alliierten Invasion 1944 Premiere hatte (wie stark unter schied sich doch die deutsche Besetzung in Frankreich von der in Osteuropa!), oder «Die schmutzigen Hände» und «Die respektvolle Dirne» gehören - vielleicht nicht mehr zur ersten Reihe - immer noch zum Repertoire der internationalen Bühnen.
Von Sartres Romanen ist wohl «Ekel» der langlebigste, von seinen autobiografischen Schriften «Die Wörter» die lesbarste und von seinen großen Arbeiten zur Literatur das monumentale Spätwerk, an dem Sartre zehn Jahre arbeitete, «Der Idiot der Familie» - eine nicht ganz vollendete literaturbiografische Arbeit über Gustave Flaubert - die eindrucksvollste. Den umfassendsten Zugang zu seinem literarischen Werk erhält man vielleicht über sein «Saint Genet, Komödiant und Märtyrer», eine komplexe Arbeit über Jean Genet. Hier mischen sich biografischer Roman, psychoanalytische Bear beitung, philosophischer Text und anthropologischer Essay zu einem auch stilistisch absolut bemerkenswerten Buch, von Ursula Dörrenbächer bewundernswert übersetzt.
Das alles ist Philosophie- und Literatur geschichte. Vieles harrt der Wiederentdeckung, die - gemessen an der Qualität - sicher nicht ausbleiben wird und allemal lohnt. Was aber nach wie vor kaum er klärbar ist, ist die politische Haltung des damals schon bekannten Dichters und Denkers während der deutschen Besatzungszeit. Zwar war Sartre keineswegs ein Kollaborateur, allerdings auch kein Mann der Resistance. Später aber führte er die französischen Intellektuellen in ihrer Unterstützung des internationalen Kommunismus sowjetischer Prägung. Nach einer kurzen Irritation in Folge der Niederwerfung des Budapester Aufstandes von 1956 setzte sich diese Unterstützung bis 1968 fort, als der Prager Frühling sein Ende fand.
Es war dies auch der Zeitpunkt, als die junge Generation in Frankreich nachdrücklicher nach der Zeit der deutschen Besetzung fragte und die Verlogenheit offenbar wurde, was das damalige Verhalten der französischen Mehrheit betraf. Bis dahin hatten die beiden Erben des Wider Standes in stillschweigender Arbeitsteilung das nationale Selbstverständnis beherrscht: Die Gaullisten vertraten den nationalen Teil der Gegnerschaft gegen die Okkupation und stellten die Regierung. Die Kommunisten waren der «linke Arm» der Resistance und stellten die intellektuelle Führung und proletarische Opposition des Landes. In einem langen Prozess, der 1968 begann, wurde diese wirklichkeitsverfälschende Zweiteilung aufgehoben. Die nationale Desillusionierung führte zu veränderten Bewusstseinslagen im Lande und warf neue Fragen auf. Die intellektuelle Bewegung hörte auf, Domäne der Linken zu sein.
Als Sartre am 15. April 1980 fast 75- jährig starb, war er praktisch blind und konnte am Tagesgeschehen nicht mehr teilnehmen. Dabei war er - und das er klärt so vieles - doch ein Mann des Augenblicks, einer, der sofort reagierte, ohne eine wissenschaftlich begründbare Über legungsfrist einzuhalten. Er half immer sofort, war zur Stelle, in einem ganz modernen Sinne «präsent», nicht nur ein Zeuge, sondern auch ein Gestalter seiner Zeit, der ungeschützt Teilhabe einforderte und einlöste. Er war sich der geschichtlichen Dimension des gegenwärtigen Augenblicks immer bewusst, war spontan, anarchisch, intellektuell mutig: «An das, was ich geschrieben habe, fühle ich mich nicht gebunden. Natürlich nehme ich aber kein Wort davon zurück!»
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.