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  • Politik
  • Ein ehemaliges Bandmitglied erzählt die Geschichte der »Ton Steine Scherben«

Stoff für Legenden

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf der Brücke über der Autobahn, wenn du nach Berlin reinkommst, steht es immer noch - oder wieder. Es war zwischendrin mal weg, übergepinselt. (...) Ich lese >Keine Macht für Niemand< und denke: Aha, jetzt bist du wieder zu Hause.« Diese kleine Anekdote, die der langjährige Scherben-Trommler Funky Götzner in einem Interview 1999 zu Besten gab, erläutert anschaulich den Stellenwert, den die 1970 gegründete und 1985 aufgelöste Rockband »Ton Steine Scherben« hatte und hat. Eine Band, die zwar außer der charismatischen Stimme ihres Sängers Rio Reiser musikalisch wenig Innovatives vorzuweisen hatte, aber auf Grund ihrer Verwurzelung in der antiautoritären und linksradikalen Subkultur Westdeutschlands und besonders Westberlins zum Inbegriff deutschsprachiger, politischer Rockmusik wurde. Stoff für Legenden also. Doch Kai Sichtermann, langjähriger Bassist der Gruppe, und seine beiden Co-Autoren Jens Johler und Christian Stahl bemühen sich in ihrem ‹jetzt herausgekommenen Buch »Keine Macht für Niemand. Die Geschichte der Ton Steine Scherben« erfolgreich, jegliche Heldenverehrung zu vermeiden. Skizziert wird der Weg einiger Aussteiger aus der westdeutschen Provinz, die es nach Berlin verschlagen hatte, um dort Musik und Revolution zu machen. Mit der ersten im Sommer 1970 produzierten Single »Macht kaputt, was euch kaputt macht« und der kurz darauf folgenden gleichnamigen LP gewann die Band schnell eine große Fangemeinde in der linken Szene. Die Gruppe reagierte schnell auf politische Ereignisse. Für eine Solidaritätsveranstaltung mit inhaftierten Mitgliedern der »Roten Armee Fraktion« (RAF) entstand der Song »Der Kampf geht weiter« und auch der Besetzung eines leerstehenden Schwesternwohnheimes in Kreuzberg, das später unter dem Namen »Georg von Rauch- Haus« bekannt wurde, und der Kampagne gegen Fahrpreiserhöhungen bei den Ber liner Verkehrsbetrieben (BVG) wurden eigene Titel gewidmet. 1972 erschien das bis heute über 200 000 Mal verkaufte Doppel-Album »Keine Macht für Niemand«. Die Gruppe wurde bundesweit gefragtes Sahnehäubchen für politische Veranstaltungen, Konzertanfragen kamen von der SDAJ, den Jusos, diversen ASten, Gruppen der Roten und Schwarzen Hilfe bis hin zur Evangelischen Jugend.

Kommerzieller Erfolg war damit aller dings nicht verbunden, und die revolutionären Tugendwächter wachten unerbittlich über die Einhaltung des linksradikalen Reinheitsgebotes. An Gagen war nicht zu denken und künstlerisch wurden keinerlei Experimente geduldet: Versuche, mittels Kostümen, Schminke und Lichteffekten eine größere Bühnenpräsenz zu er reichen, wurden ebenso als »kleinbürger lieh« gegeißelt wie der steigende Anteil »unpolitischer« Songs im Scherben-Repertoire. Eintrittsgelder von fünf Mark brachten den Scherben regelmäßig den Vorwurf der »Geldgeilheit« ein; von Leuten die ohne mit der Wimper zu zucken bereit waren, dreißig Mark und mehr für ein »Stones«- oder »Pink Floyd«-Konzert auszugeben. Der Einsatz von Back groundsängerinnen führte auch schon mal zu Stinkbombenattacken militanter Frauengruppen.

Nach der Produktion der Doppel-LP »Wenn die Nacht am tiefsten ist« flüchtete die Band schließlich vor der linksradikalen Inquisition in eine Bauernhofruine nach Fresenhagen in Friesland. Dort widmete man sich mehr dem Aufbau des Hofes und der Landarbeit als der Musik. Kinderhörspielvertonungen, Theatermusiken und kleinere Filmrollen halfen den Lebensunterhalt der Kommune zu sichern. Einige Musiker beteiligten sich an der Schwulen-Revue »Brühwarm«, andere unter dem Namen »Captain Hammer« an einer Science Fiction-Revue im Rahmen des SPD-Wahlkampfes, was natürlich weiteren Ärger einbrachte.

Erst 1980 entstand die Idee einer Neuformierung der Band, allerdings unter neuen Voraussetzungen: nicht mehr Agit- Prop-Truppe sondern »normale« Rock›n‹Roll-Band wollte man sein. Doch längst hatten Udo Lindenberg, Nina Hagen, M. Müller-Westernhagen und andere die Spitzenplätze im deutschsprachigen Rockbusiness besetzt, hatte die spaßbetonte »Neue Deutsche Welle« um Nena und Ideal neue Akzente gesetzt. Die esoterisch angehauchte LP »Scherben IV - Die Schwarze« und zwei darauf folgende Deutschlandtourneen brachten ein finanzielles Desaster, von dem sich die Band nie wieder erholen sollte. Nach drei weiteren, vom ständigen Überlebenskampf geprägten Jahren und einer letzten Tournee löste sich die Gruppe 1985 endgültig auf. Die Solokarriere des 1998 verstorbenen Scherben-Sängers Rio Reiser, u.a. mit den Hits »König von Deutschland« und »Alles Lüge«, half nicht unbeträchtlich, den Schuldenberg abzubauen, spätere Live- Veröffentlichungen aus dem Scherben- Nachlass taten ein übriges.

Dass »Ton Steine Scherben« aber mehr sind, als eine an unerbittlichen Marktgesetzen gescheiterte Rockband hat sich längst zur Genüge gezeigt. Bis zum heutigen Tag sind ihre Songs über Ausbeuter, Unterdrücker, prügelnde Polizisten und für die Freiheit der Soundtrack sozialer Bewegungen, von Hausbesetzern über Antifa-Gruppen bis hin zur Gewerk schaftsjugend, geblieben.

Kai Sichermann/ Jens Johler/ Christian Stahl: Keine Macht für Niemand. Die Geschichte der Ton Steine Scherben. Schwarzkopf & Schwarzkopf. 320 Seiten m. zahlreichen Abbildungen, Broschur. 29,80 DM.

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