Im Klinikschritt zum Bauchzentrum

Impressionen aus dem Chefarzt-Alltag in der Berliner Parkklinik

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 7 Min.
Mit den streikenden Ärzten sind auch die Krankenhäuser in die Schlagzeilen geraten. Übermüdete, schlecht bezahlte Mediziner bestimmen das Bild vieler Berichte, sekundiert von den unterversorgten Patienten, die Opfer des neuen Abrechnungssystems nach Fallpauschalen geworden sind. In der Berliner Parkklinik wird demnächst ein neues Schichtsystem eingeführt, das Ärzten bessere Arbeitsbedingungen ermöglicht.
Chefarzt-Visite ist auf dieser Station der Inneren Abteilung in der Berliner Parkklinik immer am Mittwochmorgen. Die Anfangszeiten sind unterschiedlich, sie richten sich nicht nach dem Zeitplan von Chefarzt Prof. Dr. Müller-Lissner, sondern danach, wann die Patienten und Mitarbeiter auf der Station dazu bereit sind. Erst, wenn dies der Fall ist, wird der Chef gerufen. Er könne seinen Schreibkram eher unterbrechen, sagt Müller-Lissner. Dann rennt er los, als müsste er eine anfahrende Tram erwischen.
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Wer sich in der Parkklinik im grünen Berliner Stadtteil Weißensee orientieren will, dem sagen die Beschäftigten nicht unbedingt Etage und Zimmernummer, denn die Nummern an den Türen sind hier ein wenig klein geraten. Besser richtet sich der Besucher oder Patient in diesem Hause nach den Kunstobjekten. So findet man den Chef der Inneren Abteilung direkt rechts von der »grünen Wand« in der dritten Etage. Im Erdgeschoss arbeiten Bilder der Malerin Barbara Bauer erfolgreich gegen die Krankenhausatmosphäre und im angrenzenden Park der Sinne wurde von einigen Enthusiasten, unter ihnen der Handchirurg Prof. Dr. med. Ekkehard Vaubel, eine Erlebnissphäre geschaffen, in der medizinische Therapie und einfaches Herumspazieren ganz unprätentiös ineinander übergehen können - ein Stein für den Tastsinn, ein Weg, auf dem man balancieren kann, Duftdolden zum Riechen, Klangsteine, Heilkräuterbeete, ein Labyrinth. Unschwer zu erkennen, welche Möglichkeiten diese einfachen Installationen für die Heilung motorischer oder auch psychischer Beeinträchtigungen bieten können.
Die Parkklinik Weißensee gehört mit 350 Betten eher zu den kleineren Häusern der Hauptstadt, in der es ca. 21 000 Betten in knapp 70 Krankenhäusern gibt. Auch, wenn sich hier ein neuer Patient schon mal verlaufen kann, findet Chefarzt Dr. Müller-Lissner die Atmosphäre familiär.
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Bevor das Stationsteam das erste Krankenzimmer betritt, referiert Assistenzarzt Jan Kreutzkamp auf dem Flur kurz die Krankengeschichte des Patienten, um den es geht. Auch das persönliche Umfeld wird kurz besprochen, denn es könnte wichtig sein, ob ein Mensch in eine leere Wohnung, ein Pflegeheim oder eine große Familie entlassen wird. Kreutzkamp hat bereits einen arbeitsintensiven Tag und eine ebensolche Nacht auf der Station hinter sich. Die Visite beschließt einen 24-Stunden-Dienst, den es in der Parkklinik bald nicht mehr geben wird. Man arbeitet hier an einem neuen Dienstplan, in dem für Ärzte 13-Stunden-Tage vorgesehen sind, die sich so über den Monat verteilen, dass 48 Stunden pro Woche nicht überschritten werden. Darauf freut sich Kreutzkamp wie auf sein Bett nach dieser anstrengenden Schicht. Voll konzentriert spricht er über seine Patienten. Voll konzentriert hört sein Chef ihm zu, entspannt angelehnt, den Kopf leicht zurückgeworfen, die Augen geschlossen. Noch ein kurzer Austausch über die geplante Therapie, dann geht es im Eilschritt ans Krankenlager, wo Müller-Lissner sich dem Patienten dann wieder zuwendet, als hätte er alle Zeit dieser Welt.
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Während in der Parkklinik der Wechsel der Tempi mit einem furiosen Treppenhausabstieg der Visitionäre auf die Station 1A seinen Fortgang nimmt, streiken bundesweit mehrere Tausend Klinikbeschäftigte für mehr Geld und kürzere Arbeitszeiten. Müller-Lissner versteht die Suche der Kollegen nach Öffentlichkeit für ihre Probleme, auch wenn er das Ganze nicht für einen richtigen Streik hält. Nach seiner Auffassung ist das Gesundheitssystem »politisch runtergewirtschaftet«, junge Mediziner würden in Länder gehen, die ihnen mehr zahlten und hier blieben Praxen unbesetzt. Die Parkklinik, eine private Einrichtung, die zu 95 Prozent Patienten aus den gesetzlichen Krankenkassen behandelt, hat keine Probleme, ihre Stellen zu besetzen, und regelt ihre Arbeitszeitprobleme ohne Ausstand. Seit einigen Jahren arbeitet man hier nach dem Fallpauschalensystem. Die Klinik erhält für die Behandlung einzelner Krankheitsbilder eine bestimmte Summe von der Krankenkasse. Früher wurde nach Liegetagen abgerechnet - absurd, wie Müller-Lissner findet. Das hatte die Konsequenz, dass ein Krankenhaus gar nicht bemüht sein musste, seine Patienten effektiv zu behandeln, denn es verdiente mehr, je länger die Eingewiesenen dort verweilten.
Auf der Station 1A befindet sich das »Bauchzentrum«, eine interdisziplinäre Einrichtung für Patienten, deren spezielle Erkrankung internistische, chrirurgische und radiologische Kompetenz gleichermaßen erfordert. Assistenzarzt Daniel Riegelmann informiert die Visite-Gruppe und den Chefarzt über die Probleme, die hinter den Türen zu den Krankenzimmern warten. Eine Patientin, Jahrgang 1913, wurde wegen Schwindelgefühlen eingeliefert. »Sie haben vermehrt Wasser um die Lunge herum«, sagt ihr Prof. Müller-Lissner, »und es ist uns nicht so ganz klar, wo das herkommt. Die Bauchspeicheldrüsenentzündung ist dazu nicht ausgeprägt genug.« Man müsse das weiter beobachten. Auch das gehört zum Konzept der interdisziplinären Behandlung: Die Therapie wird nicht angesagt, sondern gemeinsam mit dem Patienten besprochen. Mitunter lehnt der dann auch einen Vorschlag ab. »Sein gutes Recht«, so der Chefarzt. Je mehr er selbst allerdings von der Behandlung erwarte, desto intensiver werde er sich auch bemühen, den Betreffenden davon zu überzeugen. Der nächste Patient, informiert Riegelmann, wird als erstes sagen, dass er nach Hause möchte. Möglich sei für den alten, dementen Herrn mit einem seltenen Tumor auch eine Operation. Doch die Risiken wären hoch und die Familie ist mit einer medikamentösen Therapie einverstanden. Einer jungen Frau, deren Behandlungskarriere wegen unklarer Bauchbeschwerden seit der Kindheit kaum eine Unterbrechung erfuhr und nie zu einer vernünftigen Diagnose geschweige denn Therapie führte, sagt der Chefarzt unumwunden, dass er sich von einer endoskopischen Darmuntersuchung keinen Aufschluss verspreche, sie aber dennoch vorschlage. Sie sei bei ihr noch nie gemacht worden, und er wolle einfach ausschließen, dass ausgerechnet hier das Problem zu finden sei. Ein betagter Herr, dessen Herzbeschwerden nicht zu beheben sind, geht an diesem Mittwoch in sein Pflegeheim zurück und lobt die Damen und Herren im weißen Kittel über alle Maßen. Entsprechend heiter verlassen sie das Vier-Bett-Zimmer. Mittagspause.
Kein Essen, sagt der drahtige 55-jährige Müller-Lissner, davon werde er tagsüber nur müde. Der Professor für Innere Medizin und Gastroenterologie kam vor einem Jahrzehnt aus Süddeutschland nach Berlin, weil er es hier gesellschaftlich spannend fand. Und das ist es für ihn noch immer; er hat nicht vor, die Stadt oder die Klinik wieder zu verlassen. Eine junge Assistenzärztin aus der Unfallklinik Marzahn, die zur Zeit in der Parkklinik hospitiert, hält das Tempo, das er hier für die Visite vorgibt, nicht für ungewöhnlich. Das sei der typische »Klinikschritt«.
Als nächstes steht eine endoskopische Darmspiegelung, der Fachmann nennt sie Koloskopie, mit der Entfernung eines in die Darmwand eingewachsenen Polypen auf Müller-Lissners Plan. So ein Gewächs kann die Vorstufe für eine Krebserkrankung sein und soll daher möglichst entfernt werden. Der Patient bekommt ein Beruhigungsmittel von Krankenschwester Ulrike Schumann und ihre Kollegin Martina Gründel unterstützt Stefan Müller-Lissner, der mit Schlauch und Biopsie-Zange in Millimeter-Ausführung dem Polypen zu Leibe rückt. Proben des abgetragenen Gewebes sollen histologisch untersucht werden. Doch zunächst müssen sie mal raus aus dem Verdauungsorgan. »Haben Sie schon einmal mit einem Netz gearbeitet?«, fragt der Operateur Martina Gründel. Sie hat und das kaum fingernagelgroße Netz fördert wenig später winzige Teilchen für den Pathologen zutage.
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Müller-Lissner hat seine Endoskopien nicht gezählt. Es werden einige Tausend zusammenkommen; der Mann hat Erfahrung damit. Dennoch kann auch er den Rat von Spezialisten anderer Fachgebiete brauchen. Nicht zuletzt auf seine Initiative arbeiten daher Chirurgie, Innere Medizin und Bildgebende Diagnostik seit Jahren eng zusammen, es dauerte nur seine Zeit, ehe das Bauchzentrum mit der ganz und gar unmedizinischen, aber dafür sehr patientenfreundlichen Bezeichnung offizielle Strukturen bekam. Seit Januar 2005 verfügt es über 34 eigene Betten. Die wöchentliche Konferenz, auf der an Hand von Röntgenaufnahmen problematische Fälle zwischen den behandelnden Kollegen aus allen drei Abteilungen besprochen werden, beschließt an diesem Mittwoch das sportliche Auf und Ab von Chefarzt Müller-Lissner in den Treppenhäusern der Berliner Parkklinik. Was jetzt kommt, ist Schreibtischarbeit.

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