Eine Gefangenenzeitung in Berlin testet, wie weit die Pressefreiheit hinter Gittern geht
Thomas Klatt
Lesedauer: 6 Min.
Unter normalen Umständen würden viele Menschen Dirk Stephan um seinen Arbeitsplatz beneiden. Bei gleitender Arbeitszeit kann er beginnen, wann er möchte. »Erst mal mache ich mir meinen Kaffee, dann schaue ich nach den eingegangenen Leserbriefen«, erzählt er. Der Arbeitsweg in sein Büro ist mit wenigen Schritten und Treppenstufen geschafft. Um sein Essen muss er sich gar nicht erst kümmern, das wird ihm pünktlich Tag für Tag angeliefert. Doch da ist er gleich bei einem seiner Lieblingsthemen. Der gelernte Metzger kann sich darüber aufregen, dass sich die Großküche so wenig Mühe gibt und nur noch ein Einheitsessen für alle anbietet. »Früher gab es mit Rücksicht auf die vielen Muslime hier im Haus immer zwei Essen, mit und ohne Schweinefleisch. Jetzt gibt es nur noch Huhn, Hammel oder Tofu. Wer weiß denn noch, wie man Knochen auskocht oder eine ordentliche Soße zieht«, regt sich Stephan auf. Die Verpflegung ist ihm immer wieder eine Meldung wert. Dirk Stephan hat nach seiner Lehre Abitur gemacht und mehrere Semester Architektur studiert. Dann gab es eine Zäsur in seinem Leben, einen Mord, eine Verurteilung zu lebenslanger Haft. Jetzt ist er Redakteur bei der Gefangenenzeitung Lichtblick.
*
»Wir bekommen zwar als Redakteure die höchste Lohngruppe V, erhalten also etwa 550 Euro im Monat. Aber es geht uns gar nicht um den Verdienst, sondern darum, dass wir in unseren Räumen unbeaufsichtigt sind und kein Beamter in der Zelle ist», sagt Andreas Werner, gelernter Bauingenieur, ebenfalls wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt und seit drei Jahren Redakteur bei der Tegeler Gefangenenzeitung. Mit ihren Freiläufer-Ausweisen können sich die beiden Häftlinge praktisch überall im großen Gefängnis bewegen und recherchieren. Sie machen sechs Tage in der Woche Zeitung, um nicht zu verblöden, wie sie sagen. Wer lange in einer Haftanstalt einsitzt, verliere oft den Kontakt nach draußen, werde dumpf und komme mit einem recht eingeschränkten Vokabular aus. Dem wollen sie vorbeugen.
Mehrere Zellen wurden zu einem Redaktions-Büro zusammengelegt, mit PC und Drucker. Einen Online-Zugang haben sie allerdings nicht. Die Kosten für die Berliner Knastzeitung werden von der Anstalt und durch Spenden gedeckt. Das gut 40 Seiten starke Magazin ist beliebt. Von den 5500 kostenlosen Exemplaren pro Ausgabe bleibt nur rund ein Fünftel in Tegel. Der Rest geht bundesweit in andere Gefängnisse. Zusätzlich haben etwa der Richterbund, die Vereinigung Berliner Staatsanwälte und Anwaltsvereine den Lichtblick abonniert. Etwa 100 Exemplare werden sogar ins Ausland verschickt, wo Deutsche im Gefängnis sitzen. Nicht selten finden sich daher im Lichtblick auch Erlebnisberichte aus Gefängnissen in England oder Thailand.
Neben den Leserbriefen sind die Rechtsseiten ein Schwerpunkt im Magazin. »Was passiert mit dem Strafvollzugsgesetz, wenn die Verantwortung wieder auf die Länderebene verlagert wird und welchen Einfluss können wir als Gefangene darauf nehmen? Was besagt die neue Rechtsprechung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung? Wir versuchen immer am Ball zu bleiben«, sagt Redakteur Dirk Stephan, der sich permanent in Gesetzestexte einlesen muss und die Tagespresse in Sachen Strafvollzug verfolgt.
Bei den Gefangenen sind zudem die kostenlosen Chiffreanzeigen beliebt. Da sucht nicht nur ein sportlich schlanker Wassermann eine verrückte Diva oder der tätowierte, gepiercte Klaus ein geiles Bunny. Unter »Gittertausch« bietet auch schon mal ein Gefangener seinen Platz in der JVA Landsberg in Bayern an, die er als Haftanstalt mit vielfältigen Freizeitmöglichkeiten anpreist.
*
Knast-Zeitungen gibt es in Deutschland einige, von Gefangenen für Gefangene. Alle haben gemein, dass sie vor der Veröffentlichung der Anstaltsleitung vorgelegt werden müssen. Nur in Tegel ist das anders. Seit 1968 erscheint der Lichtblick unzensiert. Der Anstaltsleiter sieht die sechs Ausgaben im Jahr erst nach dem Druck. Das ist bundesweit einmalig. »Über dieses Zeitungsmodell halte ich auch meine schützende Hand, weil ich es wichtig finde, dass die Gefangenen eine Möglichkeit haben, ihre Meinung zu sagen, kritisch zu sein und weil so eine Knast-Zeitung natürlich ein Ventil ist, wo Frustrationen abgelassen werden können», sagt der Leiter der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel, Klaus Lange-Lehngut.
Doch nun wurde die letzte Ausgabe eingestampft, zumindest nicht mehr vollständig ausgeliefert. In der Rubrik »Beamter des Monats« wurde ein Gruppenleiter kritisiert. Das computergenerierte Titelbild zeigte einen prügelnden Schließer über einem wehrlosen Gefangenen. Für Anstaltsleiter Klaus Lange-Lehngut war das zuviel. Er ließ die weitere Auslieferung des Lichtblicks 1/2006 stoppen. »Das Spannungsfeld besteht darin, dass einerseits Pressefreiheit nach dem Modell Lichtblick garantiert ist, auf der anderen Seite aber das über 30 Jahre alte und bewährte Statut des Lichtblicks garantiert, dass im Magazin keine polemische Kritik an einzelnen Beamten geübt werden darf«, erklärt der Anstaltsleiter das Dilemma. In der Gefangenzeitung dürften keine unbewiesenen Behauptungen gedruckt werden, solange gegen Beamte wegen Amtsmissbrauch noch ermittelt werde.
Nach der Rechtsprechung des Kammergerichts sei die Tätigkeit der Lichtblick-Redaktion eher als eine Art Insassenvertretung zu werten, die wiederum in der Generalverantwortung des Anstaltsleiters liege. Somit sei laut Kammergericht der Anstaltsleiter in Person Herausgeber des Lichtblicks. Also sei seine Intervention gegen die letzte Ausgabe des Lichtblicks auch im strengen Sinne keine Zensur gewesen, erklärt Klaus Lange-Lehngut.
Doch mit diesen juristischen Spitzfindigkeiten können sich die beiden Knast-Redakteure nur schwer zufrieden geben. Trotz der jahrelangen guten Erfahrungen mit dem Lichtblick-Modell reagiere die Anstalt jetzt ungewöhnlich nervös auf geäußerte Kritik. »Es gab Berichte, dass im Haus I zwei Gefangene von Beamten verprügelt worden sein sollen. Im Haus III gab es später eine Art Meuterei, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Also haben wir darüber geschrieben«, erklärt Andreas Werner.
Nachdem die Anstaltsleitung die Redaktionsräume vorläufig schließen ließ und die Ausgabe nicht mehr zur Auslieferung freigab, ließ Wagner mit Hilfe des Lichtblick-Fördervereins die zensierte Nummer von befreundeten Juristen prüfen. Die fanden nichts presserechtlich Relevantes am letzten Lichtblick, wiesen jedoch darauf hin, dass die Gefangenenzeitung nun mal kein freies Presseorgan darstellt, sondern mit ihrem Statut gesonderten Konditionen unterliegt. Somit mussten sich die Lichtblick-Redakteure vorerst dem Diktat beugen.
*
Anstaltsleitung und Redakteure haben sich mittlerweile geeinigt, dass nun eine entschärfte Version des Lichtblicks nachgedruckt wird. Dennoch wollen die Redakteure weiter auf Missstände wie Überbelegung, schlechtes Essen oder Übergriffe von Beamten hinweisen.
Grundsätzlich wolle auch die Anstaltsleitung den Lichtblick als Zeitung von Gefangenen für Gefangene weiterhin unterstützen, so weit es die Statuten möglich machen, keine Beamten diffamiert werden und es die Sicherheit im Gefängnis zulässt, sagt Klaus Lange-Lehngut.
»So eine Zeitung ist nur lebensfähig, wenn sie unzensiert erscheinen kann. Nur ist ja rechtlich noch gar nicht genau geklärt, wo die Grenzen der Pressefreiheit liegen, wenn die Redakteure Insassen einer Vollzugsanstalt sind«, gibt der Anstaltsleiter zu bedenken. Der geht nächstes Jahr in den Ruhestand. Ob sich sein Nachfolger auch auf das Lichtblick-Risikomodell einer unzensierten Knast-Zeitung einlassen wird, ist noch völlig offen.
Die beiden Lichtblick-Redakteure wollen jedenfalls auch noch in den nächsten Jahren Zeitung machen, trotz oder gerade wegen der aktuellen Auseinandersetzung mit der Anstaltsleitung. Nach der Haft aber möchte Andreas Werner nicht mehr journalistisch arbeiten. Dirk Stephan kann sich vorstellen, nach der Entlassung Bücher zu schreiben.
Lichtblick, Seidelstraße 39, 13507
Berlin (JVA Tegel), Spendenkonto
Berliner Bank, BLZ 100 200 00,
Kto.-Nr.: 3 100 132 703
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.