Geschichte, die nicht vom Wühltisch kommt
«Suhler Zeitzeugnisse 1933 - 1945»- Schüler wollten wissen, wie ihre Großeltern in der Nazizeit lebten
In der DDR lästerte man liebevoll über die «autonome Gebirgsrepublik». Suhl ist anders, behaupten die Leute auch heute noch. Da ist was dran. Ein Beispiel: Nachdem die PDS-Fraktion im Stadtrat beantragt hat, man möge pro Einwohner eine Mark zur symbolischen Zwangsar beiterentlohnung überweisen, einigte man sich bis 2005 auf das Fünffache. Auf Antrag der CDU - 250 000 Mark.
Wer etwas über das Leben in einer Stadt erfahren will, kann sich ein Gutteil dieses Wissens erlaufen. Das mag in Suhl bisweilen angenehm sein - doch nicht, wenn Schnee schmilzt und Regen rinnt. Solch Wetter treibt die Menschen geradezu einem Hessen in die Ar me, der alle fünf Minuten neue Schnäppchen anpreist. Auf zwei Etagen des ehemaligen Centrum-Warenhauses, auf dessen Eingang noch der Kaufhof-Schatten lastet und an dessen Rückfront man am Mittwoch C&A-Symbole entfernte.
«In der nächsten halben Stunde bekommet se von mir zwei Armbanduhre für nur dreißich Make...», quetscht der Hesse Mundart ins Mikrofon. Dann sind «vier Gasfeuerzeuche für nur eine Mark...» der Hit. Ferngesteuert bewegen sich die Käuferscharen von Wühltisch zu Wühltisch. Es riecht nach Mottenpulver.
Ob dieser (ostdeutsche) Alltag zwischen Zwangsarbeiter-Entschädigung und Billig-Kitsch in fünfzig Jahren jemanden interessiert? Ausgeschlossen ist es nicht, vorausgesetzt, es gibt dann noch Lehrer wie Christina Gräfe (einst Rennsteig- nun Luther Schule) mit Schuldirektoren, die Mut zur eigenen Entscheidung haben, und ein Oberbürgermeister wie Dr. Martin Kummer, der obgleich von der CDU, bei vernünftigen Vorschlägen nicht er schrickt, nur weil sie von links kommen. Dazu braucht es noch begeisterte Projektleiterinnen wie Ulrike Jähnichen, die dann hoffentlich nicht mehr auf ABM- Schleudersitze angewiesen sind.
Das wichtigste indessen sind junge Menschen wie Bastian Röhmer (einst Herder-Gymnasium), oder Nadine Prinz, Heiko Frank und Daniel Jansky (einst 6. Regelschule). Sie haben sich mit Freunden um das «Thema Zwangsarbeiter» gekümmert, als die Politik das noch gar nicht als Auftrag verstand. Christina Gräfe, sie unterrichtetGeschichteundSozialkunde.sagt. «Geschichte wird erst dann zur Erfahrung, wenn sie nacherlebbar wird.» Was die Schüler an Erinnerungen und Dokumenten zutage förderten, ist zum Teil atemberaubend. Neugierig-respektlos ließen sie Legenden sterben. Beispielsweise die, die am Suhler Rathaus angeschrieben steht und zu DDR-Zeiten zeitlich unzulässig gedehnt wurde. «Im grünen Wald, die rote Stadt, die ein zerschossen Rathaus hatt » Der Spruch erinnert an die Abwehr des Kapp-Putsches 1920. 13 Jahre später war Suhl tiefbraun. Die NSDAP hatte 13 Sitze im Stadtrat, KPD und SPD zusammen elf.
Nachzulesen in den Schülerarbeiten ist, wie die jüdischen Simson-Besitzer, nachdem sie ihre gewinnbringende «Schuldigkeit» gegenüber der Reichswehr geleistet hatten, 1936 in die Schweiz fliehen mussten. Fortan gehörten ihre Fabriken zu den Gustloff-Werken und waren nationalsozialistischer Musterbetrieb. Nach der «Reichskristallnacht», als auch die Suhler Synagoge niedergebrannt war, meldete die Presse: «Damit ist unsere Stadt judenrein geworden, was von der ganzen Einwohnerschaft mit größter Genugtuung und Freude begrüßt wurde.» Auch wenn diese Verkündung Realitäten Vorgriff, jeder, der einmal einen Deportationsschein («Sie haben sich mit .Verpflegung für zwei Tage am Sammelpunkt einzufinden...») in den Händen hielt, der schreit auch nicht im Suff «Sieg heil!».
Das, hofft der Chef der Suhler Polizeiinspektion. Wolfgang Nicolai weiß, dass «Aufklärung wesentlich ist für politische Prävention». Auch wenn es «natürlich bei unseren Bürgern ein subjektives Gefühl der Unsicherheit gibt», so glaubt der Ur Südthüringer dennoch nicht, dass es in seiner Stadt «so etwas wie eine rechte Szene gibt». In der Tat, so negative Schlagzeilen wie beispielsweise Sonneberg macht Suhl nicht. Überhaupt mag Nicolai den undifferenzierten Begriff Nazi nicht. «Mich interessiert, was unter den Glatzen vorgeht.» Noch«, so meint der Polizist, »finden zureisende Rattenfänger« keine Basis zum Hassschüren.
»Glaubt er...« Stefan Heiderich, Jahr gang 1972, ist Chef des Jugendhilfeausschusses und rot - auf dem Kopf und innerlich als PDS-Mitglied. Er kennt Nazis aus der Schule, vom Fußball, aus dem gemeinsamen Erlebnis Arbeitslosigkeit und seiner Zeit als Suhler Sozialarbeiter. »Jungsturm« nennt sich der Haufen im Neubaugebiet Suhl-Nord. »Mir kann keiner erzählen, dass sich dreißig Figuren zufällig am Friedhof treffen, um der gefallenen deutschen Soldaten zu gedenken.« Heiderich versucht unter anderem mit Hilfe des »Wirbelwind«-Vereins Gegendruck zu erzeugen. Und man fährt als Gruppe nach Auschwitz, die Fahrtkosten bezahlt die Landesregierung.
Dass alle drei im Stadtrat vertretenen Parteien - CDU, SPD PDS - ein lokales Bündnis gegen Rechts beschlossen haben, sei ein Anfang. Doch Stefan ist nicht sicher, dass man die Gefahr wirklich an der Wurzel packt. Er glaubt, dass der OB Prioritäten falsch setzt. »Mal ganz abgesehen davon, dass er direkte demokratische Einflussmöglichkeiten der Bürger blockt. Das Congress-Centrum Suhl verschlingt sieben bis acht Millionen jährlich, mit sieben Millionen stützt man das Schießsportzentrum. Die Jugend hat wenig von solchen Prestige-Projekten.« Die Kassen werden knapper. Noch ist man im Rathaus stolz darauf, dass man beizeiten die Grenztruppen-Offiziersschule zum profitablen Gewerbegebiet entwickelte. Traditionelle Industrie sagt der Stadt adieu. Gerade wurde gemeldet, dass der öster reichische Besitzer der Jagdwaffenfabrik die Flinte ins Korn wirft.
Um die Wendezeit hatte Suhl 56 000 Bürger, jetzt 48 000. Bis 2020, so Prognosen, wird man weitere 13 000 und so rund 25 Millionen Mark Landeszuweisungen subtrahieren müssen.
Übrigens: Gedruckt hat die Schülerar beiten bislang keiner. Eine Internetpräsentation, mit der die Arbeit Verbreitung und so auch Ergänzung finden könnte, hat Suhl nicht. Das Erfurter Kultusministerium wollte den Schülern keinen Wettbewerbspreis zubilligen. Und bislang hat es in zwei Jahren nur ein einziger Suhler Lehrer für sinnvoll gehalten, einen der beiden in der Stadtbildstelle liegenden Klassensätze auszuleihen. »Lokalgeschichte aufzuarbeiten, heißt letztlich auch, der Wahrheit ein Stück näher zu kommen, sich der Vergangenheit zu versichern, um Zukunft zu gewinnen.« Das hat OB Kummer ins Vorwort der Schülerar beiten geschrieben und für weitere Projekte Unterstützung zugesichert.
Die Adler-Apotheke, am Markt 11 das Bahnbetriebswerk;!...) die Friedhofsgärtnerei Oskar Bohn; die Gustloff-Werke; (...) Sauer&Sohn; die Firma Greifzu; (...) die Zangenfabrik Hoffmann;(...) Bildhauer Kalmus;(...) Kohlenhändler Thorwald;(...) Schuhwaren Wild;(...) - gab es über haupt eine Firma in Suhl, die während des zweiten Weltkrieges keine Zwangsarbeiter beschäftigte?
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das beste Mittel gegen Fake-News und rechte Propaganda: Journalismus von links!
In einer Zeit, in der soziale Medien und Konzernmedien die Informationslandschaft dominieren, rechte Hassprediger und Fake-News versuchen Parallelrealitäten zu etablieren, wird unabhängiger und kritischer Journalismus immer wichtiger.
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!