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Joschka Fischer sieht keinen Grund zur Entschuldigung wegen des Jugoslawien-Krieges

  • Lesedauer: 8 Min.

Jahrhunderts, wie wir damals in Europa gedacht haben. Daraus ergibt sich ein er hebliches Konfliktpotenzial, das Gefahrenvorsorge und kooperative Sicherheitsstrukturen erfordert. Die USA spielen dabei eine entscheidende friedenstiftende Rolle.

? Uns interessiert momentan nicht die Sicht der USA, sondern Ihre Position.

Die US-Position ist zum Verständnis des Ganzen von entscheidender Bedeutung. Die USA sehen sich als einziger Garant der Stabilität und wollen deswegen ihre Optionen offen halten. Unser Interesse muss sein, die multilateralen Strukturen und Einbindungen zu erhalten. In diesem Punkt stimmen wir mit unserem Partner in Moskau überein. Das setzt voraus, dass wir mit unserem wichtigsten Verbündeten, den USA, gesprächsfähig bleiben.

? Das Hauptargument der USA ist, dass die geplante Raketenabwehr zum Schutz gegen so genannte »Schurkenstaaten« nötig sei. Selbst der CDU-Politiker Karl Lamers bezeichnet dies als »unseriös«, weder gebe es die behauptete Gefahr noch sei NMD gegen eine solche geeignet.

“Ich will auf den Begriff der »Schurkenstaaten« nicht eingehen. Die USA haben gegenüber Nordkorea jahrelang eine sehr kluge Einbindungspolitik gemacht. Das entscheidende Argument der USA ist aber die strategische Aufstellung im 21. Jahr hundert, in dem sie eine Alleinstellung und damit auch eine besondere Verantwortung haben. Insofern kann man ihren Blick auf Asien nicht abschreiben. Wenn sich jedoch ein Rüstungswettlauf entwickelt, dann wird dies nicht mehr im Interesse der USA sein, weil es zu einer Über lastung selbst der USA führt. Was das strategische Risiko von Morgen betrifft, habe ich die große Sorge, dass es zu einer Nuklearisierung unserer Nachbarregionen kommen könnte. Insofern müssen wir in der Frage der Rüstungskontrollpolitik wirklich vorankommen. Das wollen wir mit der jetzigen strategischen Diskussion verknüpfen, das liegt in unserem nationalen Interesse.

? Fordert das dann nicht doch geradezu heraus, in einer Art Mittlerfunktion über den Teich zufliegen?

Europa und auch Deutschland haben ihr Gewicht, das wir in unserem Interesse auch einbringen wollen. Wir wollen mit unserem wichtigsten Bündnispartner zu einer Gestaltungsperspektive kommen. Es bleibt ja abzuwarten, wie die Entscheidung wirklich aussehen wird. Allein die Debatte im virtuellen Vorfeld hat ihre politisch-strategische Wirkung. In der Tat bin ich sehr froh, dass die Diskussion mit Präsident Putin, mit dem Außenminister und mit seinem Sicherheitsberater an dem Punkt einen sehr realistischen Blick auf die Verhältnisse wie auf die strategischen Folgerungen gebracht hat, die Entscheidungen zum Guten oder zum Schlechten nach sich ziehen können.

© Sie lehnen die Bezeichnung des Ver mittlers ab, aber wollen die Funktion wahrnehmen?

Wir haben unsere eigenen Positionen, unsere eigenen Interessen als Deutsche und Europäer. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die in Moskau und Washington nicht nur gehört werden, sondern auch zur Geltung kommen. Als Vermittler aufzutreten würde uns völlig überfordern und wäre auch völlig unnötig. Es gibt nir gendwo so intensive bilaterale Gespräche wie zwischen Washington und Moskau.

? Vor zwei Jahren sahen Sie sich als Ver mittler, bei den Verhandlungen in Rambouillet. Sie endeten im NATO-Angriff gegen Jugoslawien. Auf vielen Begründungen dieses Krieges liegt mittlerweile ein schwarzer Schatten. Der so genannte »Hufeisenplan«, der Vertreibung und Völkermord durch die Serben belegen sollte, gilt unter Experten längst als Fälschung. Verteidigungsminister Scharping sagt, er habe den Plan zur Analyse aus Ihrem Haus erhalten. Hat Ihr Amt seither eigene Erkenntnisse gewonnen?

Sie versuchen nach wie vor, die innenpolitische Auseinandersetzung um den Kosovo-Krieg zu führen. Der »Hufeisenplan« wurde uns zur Kenntnis gebracht. Näheres kann ich dazu nicht sagen. Er war nicht der Auslöser des Krieges.

? Aber er wurde als nachträgliche Legitimation benutzt, als der Krieg nicht das erhoffte schnelle Ende fand.

Ich brauche keine nachtragliche Legitimation. Meine Selbstkritik ist, dass nicht viel früher eingegriffen wurde. Man hätte spätestens nach den Ereignissen von Vukova 1991/92 oder dem Bombardement von Dobrovnik - damals war ich noch nicht Interventionist - eingreifen müssen. Dann würden über 200 000 Menschen in Bosnien noch leben. Ebenso in Kosovo. Millionen von Flüchtlingen hätte es nicht gegeben. Damals hätten die Europäer, hätte die NATO, hätten die USA am besten gemeinsam mit dem Sicherheitsrat sagen müssen: Freunde, wenn ihr nicht mehr zusammen leben wollt, dann geht es nach den zivilen Regeln eines Scheidungsver fahrens. Wir setzen uns an den Verhandlungstisch, lassen die Kalaschnikows und Messer weg. Und der so ausgehandelte Vertrag wird durch die internationale Staatengemeinschaft garantiert.

Was Sie nicht akzeptieren wollen, ist die Tatsache, dass die großserbische Politik von Milosevic die Ursache des NATO-Eingreifens war. In Kosovo begann er seinen vierten Krieg. Nach Bosnien waren wir bösgläubig. Die Alternative Nichteingreifen hätte bedeutet, dass Milosevic weiter gemacht hätte. Ich habe anderthalb Stunden vor dem Krieg mit ihm diskutiert. Alle anderen Verantwortlichen haben immer wieder versucht, auf ihn einzuwirken. Es ist alles versucht worden. Aber nein, da muss jetzt eine Verschwörung konstruiert werden. Es gab keine, das ist alles Quatsch!

? Wir haben nicht von Verschwörung, sondern von falschen Informationen gesprochen. NATO-Sprecher Jamie Shea meint, Sie, Schröder und Scharping hätten gute Arbeit geleistet, weil Sie nicht der öffentlichen Meinung hinterherrannten, sondern sie formten.

Das sind alles Ersatzdebatten! »Hufeisenplan«, Racak...

? Die Kette der berechtigten Zweifel an der Propaganda, die diesen Krieg auf Seiten der NATO begleitete, wächst...

...ob die berechtigt sind, ist eine andere Frage. Das betrifft auch die Debatte über den Annex B in Rambouillet. Der Annex B hat überhaupt keine Rolle gespielt.

? Er war der serbischen Seite nach deren Angaben zuvor nicht bekannt, wurde nur zur Unterschrift vorgelegt.

Natürlich haben die Jugoslawen den Annex B gekannt. Das militärisch-technische Agreement von Bosnien ist zudem die Vorlage gewesen. Der Punkt war, dass sie gesagt haben, wir akzeptieren keine, egal welche, fremden Truppen dort.

Die Bundesregierung hatte auf die Aufstellung vor dem Krieg keinen Einfluss, dazu waren wir zu jung im Amt. Aber wir hatten großen Einfluss auf den Verlauf und die Beendigung des Krieges. Wir haben Russland wieder ins Boot geholt, wir haben den Sicherheitsrat wieder handlungsfähig und zur entscheidenden Plattform gemacht. Wir haben den Stabilitätsplan für die gesamte- Region entwickelt, der es den Staaten ermöglicht, sich dauerhaft Richtung Europa zu orientieren. Das ist unser Einfluss gewesen. Und der setzte voraus, dass Deutschland im Bündnis solidarisch war. Und wenn es keinen anderen Grund gegeben hätte als die Bündnissolidarität, jede deutsche Regierung hätte es tun müssen.

? Die Voraussetzung, den Krieg zu beenden, war, diesen Krieg zuführen.

Wo war Ihr Aufschrei, als Sarajevo zusammengeschossen wurde? Wo war der Aufschrei, als mehrere tausend Menschen in Sebrenica umgebracht wurden? Erst danach kam der Aufschrei, dann die Intervention. Gott sei Dank kam sie, aber sie kam für viele zu spät.

? Sie haben Milosevic mit Hitler und Stalin verglichen, die Schrecken von Auschwitz als Begründung für das NATO- Eingreifen benutzt. Bleiben Sie dabei?

Es geht hier nicht um einen Vergleich. Für mich als Vertreter der direkten Nachkriegsgeneration gibt es zwei Prinzipien: Nie wieder Krieg! Nie wieder Auschwitz!

? Sie waren der Erste, der diese beiden Prinzipien gegeneinander gestellt hat.

Zum ersten Mal für mich gingen diese beiden Prinzipien nicht mehr zusammen, standen im Konflikt. Daraus zu machen, dass ich in Jugoslawien ein neues Auschwitz gesehen hätte, ist völlig daneben. Aber es gab eine Politik der Vertreibung und des Völkermords durch Milosevic.

? Das Eingreifen der NATO hat dem Konflikt eine andere Qualität gegeben. Sie haben 1991 wenige Tage vor Beginn des Golfkrieges gesagt, dass zum ersten Mal von einer Bundesregierung »mit kriegerischen Mitteln Geopolitik gemacht« wer de, erstmals würden wieder deutsche Soldaten an die Front geschickt. Getan hat dies acht Jahre später nicht die konservative Regierung, sondern die rotgrüne Koalition.

Ich habe hier meine Position geändert. Wie ich finde, aus guten Gründen. Die können Sie kritisieren. Ich habe meine nicht-interventionistische Position angesichts der Massaker in Jugoslawien aufgegeben. Und zwar lange vor den Bundestagswahlen. Wenn mir unterstellt wird, ich hätte Ja zum Krieg gesagt, weil ich in die Regierung wollte, ist das falsch.

? Wie soll es in Kosovo weitergehen mit dem Frieden? Binden Sie die OSZE ein oder macht das allein die NATO? Wird Kosovo von Jugoslawien geschieden?

Wir haben mit dem Stabilitätspakt ein vorzügliches Instrument. Wir müssen alle Beteiligten, das heißt, die albanische Seite, die serbische Seite, andere Minder heiten, aber auch die Nachbarn Mazedonien, Bulgarien, Ungarn, Griechenland und andere zu einer regionalen Sicher heitskonferenz zusammenbringen. Die Statusfrage ist jetzt nicht entscheidbar. Es müssen Verfahrensregeln gefunden wer den, um den legitimen Interessen der kosovarischen Mehrheit und der Minder heiten wie auch der Bundesrepublik Jugoslawien eine Perspektive zu geben. Dafür ein Klima zu schaffen, braucht Zeit. Dann wird eines Tages auf der Grundlage einer Versöhnung zwischen Serbien und allen anderen eine Lösungsperspektive möglich sein. Wie die jetzt aussieht, darüber möchte ich nicht spekulieren.

? Sie waren inzwischen in Belgrad. Haben Sie das Bedürfnis verspürt, sich auch irgendwie gegenüber den Opfern der NATO-Bomben entschuldigen zu müssen?

Keinem von uns sind die politischen Entscheidungen für den NATO-Einsatz leicht gefallen. Jeder von uns hat mit sich gerungen und gelitten unter diesen Entscheidungen, Gewalt einsetzen zu müssen.

? Wollen Sie den Menschen eine Entschädigung für zerstörte Wohnungen, Krankenhäuser und Kirchen anbieten?

Noch einmal: Ursache und Wirkung dürfen nicht verwechselt werden. Es ist die Politik Milosevics gewesen, die zu diesem Krieg führte. Was danach kam, war nicht nur ein Regierungswechsel. Es war eine friedliche Revolution. Dieses erreicht zu haben, ist entscheidend. Wir tragen jetzt aktiv zum Wiederaufbau, zur Entwicklung des Landes bei. Deutschland engagiert sich dabei am meisten.

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