11.11., 11 Uhr 11

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Heute ist der 11. November. Ein geschichtsträchtiges Datum. Vor 1616 Jahren wurde an einem 11. November der Bischof von Tour beigesetzt, der drei Tage zuvor im stolzen Alter von 81 Jahren sanft entschlafen war. Der Verblichene hatte sich während seines irdischen Daseins u.a. einen Namen gemacht, weil er als jüngerer Mann im Winter seinen Mantel entzwei teilte und ihn einem Bettler schenkte. In manchen Gegenden Deutschlands erinnert man an diesen Menschen mit sogenannten Sankt-Martins-Umzügen.

Rituale, so darf mit Fug und Recht behauptet werden, sind der innere Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält. Sie sollen Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Ohne Rituale blieben wir umherirrende Einzelwesen. Kein Ritual aber ohne Mythos. Was wäre Weihnachten ohne Krippengeschichte, Ostern ohne Auferstehung, Bundestagswahl ohne Hochrechnungen, Koalitionsverhandlung ohne Sozialdemokraten? Rituale sind nicht tolerierbar. Toleranz hieße, das als unerträglich Empfundene ertragen zu lernen, obwohl man über die Möglichkeit verfügt, es abzustellen. Das Ritual aber verlangt nach Akzeptanz, eben weil es ohne den Mythos nicht möglich ist. Wer also das Ritual will, muss auch den dazugehörigen Mythos akzeptieren.

Heute um 11 Uhr 11 beginnt die Karnevalszeit, in der Mainzer Gegend Fastnacht genannt. Einer der bekanntesten Sänger der Mainzer Fastnacht war vor vielen Jahren Ernst Neger, der in seiner Interpretation des Kinderliedes »Heile, heile Gänsje« das Nachkriegspublikum auf seine Art entnazifizierte: »Ja, Du warst doch gar net schuld.« Er musste das Lied auf Wunsch des Publikums immer und immer wieder bis weit in die 1970er Jahre singen.

Eine der beeindruckendsten Eigenarten von Ritualen ist ihre Fähigkeit, Trost selbst jenen zu spenden, die sich schuldig gemacht haben. Ein verstörender, aber auch tröstlicher Gedanke - nicht nur an Sankt Martin. jam

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