Wohlfahrtsstaat am Scheideweg

Christoph Butterwegge über die Zukunft des Sozialstaates im Falle einer nächsten Großen Koalition

  • Christoph Butterwegge
  • Lesedauer: 3 Min.

Obwohl die Frage der sozialen Gerechtigkeit und Probleme wie die zunehmende Altersarmut im letzten Bundestagswahlkampf eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben, wurde die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates in Vergangenheit und Zukunft kaum thematisiert. Außer der LINKEN hat keine Partei die Sozialreformen des letzten Jahrzehnts problematisiert, schon gar nicht grundsätzlich in Frage gestellt.

Noch weniger im Mittelpunkt der Diskussion stand die Zukunft der Sozialsysteme. Dabei befindet sich die Wohlfahrtsstaatsentwicklung an einer historischen Wegscheide: Entweder wird der »Um-« bzw. Abbau des sozialen Sicherungssystems, welcher Mitte der 1970er begann, in der nächsten Großen Koalition fortgesetzt und der Übergang vom Sozialversicherungsstaat à la Bismarck zu einem Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat besiegelt oder ein Neuanfang in Richtung seiner Rekonstruktion und seines Ausbaus zu einer solidarischen Bürgerversicherung gewagt, die sich außer der Union alle Bundestagsparteien auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Rekapituliert man die Sozial- und Gesellschaftspolitik der zweiten Großen Koalition, verdichten sich die Zweifel, ob eine Neuauflage dieser Konstellation aus Union und SPD eine umfassende Kurskorrektur der Regierungspraxis bewirken kann, zur bitteren Gewissheit: Reichtumsmehrung statt Armutsverringerung - so lautete das heimliche Regierungsprogramm der Großen Koalition, dessen Durchsetzung besonders die CSU - aus der Opposition durch die FDP angefeuert - ständig forcierte, während die SPD letztlich immer zustimmte, wenn es um den Machterhalt ging. Manchmal setzten sich deren Minister sogar an die Spitze des Sozialabbaus (z.B. Franz Müntefering bei der Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre).

Parallel dazu trieb der damalige Bundesfinanzminister und spätere SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück die steuerliche Entlastung von Kapitaleigentümern und Spitzenverdienern nach dem Matthäus-Prinzip voran: Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht viel hat, dem wird auch das noch genommen. Durch die Senkung des Körperschaftsteuersatzes auf 15 Prozent ab 1. Januar 2008 wurden große Unternehmen weitgehend aus ihrer Verantwortung für die Finanzierung des Gemeinwesens entlassen. Dass dieser Satz am Ende der »Ära Kohl« noch 53 Prozent betragen hatte, ist ein Beleg dafür, wie sehr die Kapitalgesellschaften trotz steigender Gewinne entlastet wurden.

War die schwarz-rote Koalition schon mit ihrem Paket zur Rettung maroder Banken gegenüber Kapitaleignern, Brokern und Börsianern ausgesprochen großzügig, so ergoss sich über die reichsten Familien unseres Landes ein weiterer Geldsegen. Seit dem 1. Januar 2009 werden Einkommen aus Vermögen und Kapitalerträge (Zinsen, Dividenden und Veräußerungsgewinne) gegenüber anderen Einkunftsarten privilegiert, d.h. Rentiers niedriger als Arbeitnehmer besteuert. An die Stelle der Zinsabschlag- trat eine pauschale Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge in Höhe von 25 Prozent, die vornehmlich denjenigen zu Gute kommt, die den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer zahlen müssen, während Kleinanleger dadurch sogar stärker belastet werden können. Steinbrücks flotter Spruch dazu: »25 Prozent von X sind mir lieber als 42 Prozent von nix.« Dabei zahlt der nach Luxemburg, Liechtenstein oder in die Schweiz ausgewichene Steuerhinterzieher nach wie vor nix, aber wer damals 42 Prozent von X bezahlte, entrichtet heute bloß noch 25 Prozent von X.

Noch kurz vor dem Jahreswechsel 2008/09 verabschiedeten CDU, CSU und SPD eine Erbschaftsteuerreform, die besonders Wohlhabende, Reiche und Superreiche begünstigte. Witwen und Waisen von Familienunternehmern wurde die betriebliche Erbschaftsteuer unter bestimmten Voraussetzungen erlassen, wenn sie das Unternehmen fortführten. Während die Große Koalition deutschen Unternehmerdynastien wie Burda, Oetker oder Quandt/Klatten (BMW) Steuergeschenke in Milliardenhöhe machte, bat sie Geringverdiener samt ihrem Nachwuchs stärker als vorher zur Kasse: Die Anhebung der Mehrwert- und Versicherungssteuer zum 1. Januar 2007 trifft bis heute besonders jene Familien hart, die praktisch ihr gesamtes Einkommen in den Konsum stecken (müssen).

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