Ausbruch und Aufbruch

Felicién Davids Katastrophen-Oper »Herculanum« zerbröckelt in den Sophiensaelen

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 4 Min.

Schon nach den ersten Ausgrabungen im 18. Jahrhundert fühlten sich Betrachter der Überreste von Herculaneum ins Reich der Schatten versetzt. Die im Jahre 79 durch einen Vulkanausbruch des Vesuvs wie Pompeji begrabene Stadt am Golf von Neapel schien nur zu verharren. Die Fantasie weckte die Erwartung, dass gleich Menschen aus den früher prächtigen Portalen treten würden. Es war doch alles da - die Bauten, die Möbel, die Alltagsgegenstände und Kunstwerke. In der Katastrophe erstarrt.

Gleichsam fasziniert schrieb der Komponist Felicién David nach dem Libretto von Joseph Méry und T. Hadot seine Grand Opéra »Herculanum«, die 1859 in Paris zu Begeisterungsausbrüchen führte. Natürlich musste im Opernwerk ein Grund für die Verschüttung der Stadt gefunden werden - Gott bestrafte Dekadenz. Da ging die Liebe, wohin sie gerade wollte. Das kann ja wohl nicht sein. Dieses Werk Felicién Davids, der eher für den musikalischen Durchbruch der komischen Oper stand, geriet bald in Vergessenheit. Nächstes Jahr wird es in Frankreich endlich wieder aufgeführt, vom Centre de Musique Romantique Française befördert.

Für Berlin haben es Johannes Müller (Regie) und Philine Rinnert (Ausstattung) ausgegraben und präsentieren in den Sophiensaelen mit ihrem »Herculanum« Davids schöne Musik hier zum ersten Mal nach 150 Jahren. Im Ablauf allerdings entfernt von dem, was die Schöpfer sich dachten. Denn mit ihrem Projekt erforschen Müller und Rinnert, wie man heute mit der Oper, dem »seit jeher privilegierten Darstellungsmedium der großen Schreckensszenarien und Katastrophen« Endzeitszenarien darstellen könnte. Dazu wird Davids Oper zerbröckelt. Es bleiben wunderbare Gesänge, verpackt in dokumentarischer Sachlichkeit, begleitet unter musikalischer Leitung von Friedemann Mewes nach dem Arrangement für Quartett von Frank Lorenz.

Ja, das muss heute eben anders aussehen. Infos haben Vorrang. Das sind wir so gewöhnt. Also erst einmal die Fakten verlesen über den Vulkanausbruch und über die Uraufführung der Oper. Man wusste gar nicht, dass man am Fuße eines Vulkans lebte? Unglaublich. In welchen Haltungen erstarrten die Opfer? Und wer da alles mitmachte damals im Pariser Opernhaus - bis hin zu Ofensetzern und Feuerwehrmännern. Leuchtschrift informiert dann über den Verlauf der Oper. Wann gerät wer in erotische Verzückung und wie schleichen verfolgte Christen nächtens durch die Landschaft? Kein Problem. Lässt sich vorführen.

Humoristisch ist »Herculanum« auf den ersten Blick aber nicht inszeniert, es erinnert eher an sogenannte populärwissenschaftliche TV-Sendungen mit nachgestellten Szenen. Wenn es darin beispielsweise heißt, die Bratwurst gebe es bereits seit dem 12. Jahrhundert, müsste das als Fakt reichen. Aber nein, nun die Info: Es erscheint eine verräucherte Holzbude mit einem zerlumpten Bratbeauftragten auf dem Bildschirm. Vor der Bude zwei hungrige Zottelgrausel, deren Miene sich beim Biss in die Wurst aufhellt.

Müller scheint diese sich wie Lava ausbreitende und Romantik begrabene Darstellungsart fürs Musiktheater zu fürchten. Er beklagt das nicht, spitzt es vielmehr hintersinnig zu - bis zu Filmaufnahmen brodelnder Massen in revolutionärer Bewegung, weil man Davids Oper auch Aufbruchstimmung nachsagt. Der Müller malt den Teufel an die Wand. Privileg hin, Privileg her: Lasst bloß die Oper Oper sein. Als seine Aufklärer tragen die Sänger Maja Lange (Olympia), Ulrike Schwab (Lilia), Simon Robinson (Nicandor) und Thomas Volle (Hélios) bis kurz vor Ende des Dramas Alltagskleidung. Schwab ackert nebenbei als technische Assistentin, räumt Trümmer, Noten und Mikros hin und her.

Rinnerts Ausstattung lässt sich gut bewegen. Die Besucher dürfen darin vor Beginn der Opernausgrabung flanieren, vulkanische Brocken und die Partitur bestaunen. Sie bekommen eine Ansichtsmappe mit Bildern. Oper all inclusive. Sogar ein Gläschen Sekt gibt’s dazu. Häppchen wären noch gut gewesen. Vielleicht aus Pumpernickel. Pumpernickel würde farblich passen.

Nächste Vorstellungen 13. bis 15.12., Sophiensaele, Tel.: (030) 28 35 266, www.sophiensaele.com

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