Ein König der Platzanweiser

Zum Tode des noblen Bürgers und großartigen Kabarettisten Dieter Hildebrandt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Wir wissen nicht immer zu schätzen, was uns die eigenen Erfahrungen bedeuten. Wir schlagen sie gern in den Wind - und schlagen uns also mit Blindheit. Denn die Politik sieht das und macht weiter, als gäbe es unsere Erfahrungen nicht. Politik fürchtet, wir könnten unsere Erfahrungen ins Feld führen - das doch so ganz anders bestellt werden müsste. Politik weiß: Herrschaft ist da am besten möglich, wo die gemeinsamen Erfahrungen der Menschen voneinander isoliert werden, Politik sagt sich also: Teile - und herrsche! Kabarett ist das Gegenprinzip: Teile aus - und bleibe freilich ohnmächtig! Dieter Hildebrandt jubelte mal im ARD-»Scheibenwischer«: »Natürlich verändert Kabarett die Welt - ich habe mit vielen satirischen Einwürfen den Bau des Rhein-Main-Donau-Kanals verhindert. Und zwar so lange, bis er fertig war.« Seine Gesicht spiegelte dabei eine ewige Wahrheit: Die Geschichte der Hoffnung ist die traurigste Geschichte. Aber dass der Glaube daran, Hoffnung hülfe trotzdem, die Welt zugleich auch schöner mache - dies erzählte das Gesicht des Kabarettisten stets mit.

Dieter Hildebrandts schlesischer Geburtsort Bunzlau ist berufen, für den ganzen Kerl zu sprechen. Bunzlau. Das klingt irgendwie ahnungsvoll scheu, es mutet so raffiniert unschuldig, so gemütsweich und heimelig an, so kinderstubengemütlich - kurzum: genau so, wie dieser Mann hinter seiner Brille hervorblickte: Ich weiß jetzt wirklich nicht, was Sie von mir wollen, und warum Sie jetzt lachen!, sagte dieser Blick, und genau damit hat Hildebrandt eine ganz eigene, perfekte Technik entwickelt. Diese (gespielte) Unsicherheit, diese List des Zögerlichen, die alle Töne kennt außer dem Brustton, man darf sie wohl getrost auf eine Generation hochrechnen: Man nannte jene, die damals aus dem Krieg heim kamen, die auf den Zynismus der Schwarzmarktgesellschaft trafen und sich ihr Studium zusammenjobbten, die »skeptische Generation.«

Bunzlau. Dann Hitler. Hunger. Russenangst. Bittere Grunderlebnisse, die nicht ins Gemüt Hildebrandts passten, denn »ich bin albern, bin ein Lacher, Typ Klassenkasper«. Aus dem Kriegsgefangenen (der am 8. Mai 1945 nach eigenen Worten nicht zusammenbrach, sondern »diesen wunderbar warmen, sonnigen Tag wahrlich als Befreiung« fühlte und dann auch begriff) wird ein Abiturient, ein Theaterwissenschaftsstudent. Im Münchner Kabarett »Die kleine Freiheit« ist er Platzanweiser. Trägt den geliehenen Anzug eines Musikers, an der Schulter ein großer hellgeschabter Fleck. Ein fetter Besucher verächtlich: »Geiger, wa?« Hildebrandt tippt ihm an die Wanne: »Schwanger, wa?« Ein Mann in der Nähe hört’s, lacht schallend und schenkt Hildebrandt eine Mark: Erich Kästner.

Platzanweiser. Vielleicht die Grundtätigkeit des politischen Kabarettisten: Er weist sich selbst und jedem anderen Vereinzelten den einzig vernünftigen Platz zu - aufzustehen. Das hat Hildebrandt 1956 bewogen, gemeinsam mit Sammy Drechsel, Ursula Herking, Klaus Havenstein und Hans Jürgen Friedrich die Münchner Lach- und Schießgesellschaft zu gründen, das hat lange Zeit auch seinen TV-»Scheibenwischer« in Bewegung gehalten. Diese Anmaßung einer Haltung hat Hildebrandt groß und solitär gemacht, zum König der Platzanweiser - sie hat ihn freilich auch zum letzten Mohikaner werden lassen. Der nicht die freie Meinungsäußerung feierte (das machen alle), sondern das Zustandekommen einer eigenen Meinung. Das ist ein großer Unterschied. Hildebrandts Zeit, das war die Zeit, als sich im Kabarett Bekenntnis und Erkenntnis noch nicht aus dem Weg gehen mussten: Die Lach- und Schießgesellschaft kämpfte gegen Wiederbewaffnung, gegen ranghohe Altnazis als neuerlich ranghohe Neodemokraten, sie kämpfte gegen Adenauer, für Brandt.

Und Hildebrandts Soli bildeten die Krone. Er fiel sich dauernd ins Wort, und zwar mit der Zuversicht, alles Gemeine des letzten Satzes wieder gut zu machen, und das machte er so gut, dass die Pointen nur immer böser wurden. Dieser Kabarettist hat den Halbsatz, das Komma, den Doppelpunkt und den Gedankenstrich zu vier Musketieren geschmiedet, die ihre Gefechte, unbelehrbar durch Vergeblichkeit, wider den politischen Zeitgeist führten. Ja, man kann ein Komma aussprechen, als habe darin eine Welt Platz - oder einen Gedankenstrich so sagen, als sei man Herr aller Zwischenräume, in denen sich Wahrheit zu verstecken sucht.

Hildebrandt in seiner brillanten spitz witternden Fahrigkeit: Er stotterte, haspelte, er warf sich in Texte wie in einen Schlingpflanzenwald. Und selbst-redend, wie er war, so selbstredend regierten doch aber tiefe Ordnung und hohe Präzision. Das schwerste Los an Arbeit bürdet sich auf, wer schwerelos werden will. Heinrich von Kleist muss Hildebrandt erlebt haben, ehe er in seinem Aufsatz vom Marionettentheater über das Verfassen der Gedanken beim Reden schrieb. Zeitgenossenschaft Klassik.

Als der »Scheibenwischer« 2008 vom Bildschirm weggeknickt wurde, fanden sich Kabarett-Kollegen in einer letzten Sendung zu einem ausgesprochen heiteren Begräbnis. Aber doch ein Begräbnis. Abschied von einer langen Reihung von Erfolgen (also Ärgernissen), Sendeplatzverschiebungen, Verstaubungs-Anwürfen. Zwischen Kommerz und Comedy, zwischen Pilcher und Pointen hatte ein Hildebrandt keinen Platz mehr. Einer von gestern. Man sieht jedem Heute an, welche Leute es morgen zu Gestrigen stempelt. Bei Hildebrandt wurde gelacht, nicht gefeixt, und Politiker waren manchmal noch Charaktere und nicht nur Eintagsfliegen in Halbtagsparteien.

Konstantin Wecker hat von Hildebrandt gesagt und gesungen, der träume unbeirrt »den großen Traum: den vom Verstand«. Kraft, die mit Satire nicht auf eine Achillesferse, sondern auf den ganzen Menschen zielte. Zorniger Gegenpol zu Leuten mit der entsetzlichsten Fähigkeit: Sie lernen, derart leise zu schreien, dass sie sich selbst nicht mehr hören.

1972 hatte sich Hildebrandt von der Lach- und Schießgesellschaft verabschiedet, und bevor er Mitte der achtziger Jahre dort erstmals Regie führte, kam die erfolgreiche Ära mit Werner Schneyder (»Notizen aus der Provinz«). Er spielte in Filmen Gerhard Polts, im Fernsehen (»Kir Royal« von und mit Franz Xaver Kroetz, Regie: Helmut Dietl). Die autobiografische Buch-Trilogie »Was bleibt mir übrig«, »Denkzettel« und »Gedächtnis auf Rädern« belegt die Lust an den Grenzen zwischen geschriebener und gesagter Sprache: Der Sprechsteller ist auch Schriftsteller.

Nie erlag er der Verführung, sein Niveau da hinab zu senken, wo Politiker die Kritik an ihrer Arbeit wohlgefällig als Werbung genießen. Er war giftig, hat aber nie erniedrigt, nie ließ er sich ein auf dieses ausgestellte Bösmenschen-Tum überreizter, unglücklicher Zyniker - die ihre scheinbare Unbestechlichkeit ausstellen, indem sie die Deformation des Menschenwesens betreiben.

Bei Gregor Gysis Gesprächsreihe am DT erzählte Werner Schneyder, wie beide in der DDR gastierten. Hildebrandt fürchtete den Auftritt vor der Gilde der ostdeutschen Kabarettisten. Nichts Schlimmeres als Kollegen! Dies spezielle Publikum rief zum Schluss: Wiederkommen! Wiederkommen! »Da sah ich«, so Schneyder, »zum ersten Mal in den Augen des Dieter Hildebrandt Wasser und hörte ihn vor der nächsten Verbeugung sagen: Für diesen einen Abend hat sich der ganze Beruf ausgezahlt.«

Wiederkommen? Dableiben! Dableiben! In der Nacht zum Mittwoch aber sagte das Schicksal alle weiteren Auftritte und Bücher des großen, des so lauteren, des so noblen Dieter Hildebrandt ab. Er ist im Alter von 86 Jahren in München gestorben.

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