Jobcenter fördern Bildungsarmut

Bildungsrauschen

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www.jungewelt.de schilderte unlängst den Fall zweier Brüder aus dem niedersächsischen Nienburg, die, obgleich sie nachweislich erfolgreich das Gymnasium besuchen, regelmäßig beim Jobcenter vorsprechen müssen. Sie sind über 15 Jahre alt und leben mit ihren Eltern, die ihren Lebensunterhalt mit Hartz-IV aufstocken, in einer Bedarfsgemeinschaft. Zu dieser zählen alle in einem Haushalt Lebende. Sie werden für den Unterhalt gemeinschaftlich veranschlagt und müssen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Sprich, sie müssen jede Art von Arbeit annehmen.

In der Regel wird in den Jobcentern mit Augenmaß gearbeitet, dennoch sind die Mitarbeiter verpflichtet, ein Quorum erfolgreicher Vermittlung vorzuweisen. Ein Druck, der zu Restriktionen führen kann, die bis zur Zerstörung von Lebensentwürfen reichen und Menschen in Armut festschreiben. In diesem Fall sollte laut jungewelt.de zunächst der Ältere »Bewerbungen, Lebenslauf, Schulbescheinigung und eine Kopie seines letzten Zeugnisses mitbringen«, andernfalls würde man Leistungen kürzen. Er nahm den Termin wahr und wies nach, dass er die Schule »noch mehrere Jahre besuchen wird«. Trotzdem sei er regelmäßig, ab 2012 auch sein jüngerer Bruder, geladen worden. Im Oktober 2013 reichte die Mutter den Nachweis schriftlich ein und erklärte: »›Eine berufliche Vermittlung ist momentan nicht angezeigt‹«. Das Jobcenter Nienburg antwortete, dass »über 15-Jährige eben ›Kunden‹ seien, als solche auch behandelt würden. Ziel sei es, ›bei Problemen passgenau tätig werden zu können‹. So komme es vor, dass Schüler zum Ende der Schulzeit leistungsschwächer würden, was ihre ›Hilfebedürftigkeit‹ verlängern könnte. Deshalb müssten sie die Kontrollen in Kauf nehmen, so das Amt«, das sogleich Kürzungen der Leistungen als Sanktionen ankündigte.

Soweit der Zynismus. »›Der Vorwurf, Jugendliche würden durch das Jobcenter unter Druck gesetzt, ihre Schule vorzeitig zu verlassen, um sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen ist insofern absurd, als dass das Jobcenter das Interesse verfolgt, Jugendliche bei der Erreichung eines höchstmöglichen Abschlusses zu begleiten und zu unterstützen‹«, kontert die Bereichsleiterin des Jobcenters Daniela Meyer auf www.stern.de. Die Praxis widerspricht jedoch dieser Beteuerung. Hier hebelt die Idee des Förderns und Forderns der Harzt IV-Gesetze, die laut dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2010 »auch bei Schülern gelte«, die Idee des Aufstiegs durch Bildung aus.

Dass der Fall keine Ausnahme ist, dokumentiert www.spiegel.de: »Es geht um den unterschwelligen Vorwurf, dass Kinder aus Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften schlechtere Schüler sind. Und um die Frage, ob Jugendliche in die Lehre oder auf den Arbeitsmarkt gedrängt werden sollen. Schon vor zwei Jahren gerieten Jobcenter in Hessen und Niedersachsen deshalb in die Kritik. Ihnen wurde vorgeworfen, Noten zu kontrollieren und Schüler in eine Ausbildung zu drängen. In Berlin offenbart eine Dienstvereinbarung von Mai 2013, wie in Jobcentern mit Heranwachsenden umgegangen werden soll. Darin heißt es: Zur Sicherung des Fachkräfteangebots sollte ›noch stärker als bisher die vollständige Erschließung des Potenzials ausbildungssuchender junger Menschen‹ berücksichtigt werden. In Hamburg wurde einer Familie vom Jobcenter die monatliche Aufstockung um zehn Prozent gekürzt, weil die 16-jährige Tochter einen Beratungstermin nicht wahrnahm. ›Dabei war bekannt, dass das Mädchen Schülerin war‹, sagt eine Arbeitsvermittlerin dieses Amtes. Es gebe in vielen Bundesländern die Anweisung, die Hilfsbedürftigkeit zu verringern und genau zu schauen, ob sich ein höherer Schulabschluss oder doch eher eine Lehrstelle empfiehlt. ›Intern sind wir aufgefordert, wenn möglich die Schulnoten abzufragen und ins System einzutragen‹, so die Mitarbeiterin.« Lena Tietgen

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