An den Genen liegt es nicht

Forscher entkräften die soziobiologische Hypothese vom sogenannten Aschenputtel-Effekt und zeigen: In Patchworkfamilien können Kinder ebenso behütet aufwachsen wie in »normalen« Familien. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 3 Min.

Sie ist eine der umstrittensten wissenschaftlichen Disziplinen der Gegenwart: die Soziobiologie, deren Vertreter den biologischen Grundlagen des Sozialverhaltens nicht nur bei in Gruppen lebenden Tieren nachspüren, sondern auch bei Menschen. Dagegen wäre an sich nichts einzuwenden, denn spätestens seit Darwin wissen wir, dass sich der Homo sapiens während einer Jahrmillionen währenden Evolution aus tierischen Vorfahren entwickelt hat. Nur leider ziehen manche Soziobiologen daraus den reduktionistischen Schluss, dass bei Menschen ähnlich wie bei Tieren das Verhalten weitgehend biologisch, sprich genetisch determiniert sei. Auch wenn der Einzelne dies nicht beabsichtige, heißt es, trage er durch sein Verhalten unbewusst dazu bei, möglichst vieler seiner Gene an die nächste Generation zu vererben.

Als eine Art Paradebeispiel dafür gilt ein Effekt, der nach einem Märchen der Brüder Grimm Aschenputtel-Effekt genannt wird. Danach sollen in sogenannten Patchworkfamilien die Väter und Mütter in der Regel mehr in ihre leiblichen Kinder investieren als in ihre, wie der Volksmund sagt, »Stiefkinder«. Denn nur über den eigenen Nachwuchs werden die elterlichen Gene weitervererbt. Das ist aus soziobiologischer Sicht zwar plausibel, aber dennoch nicht zutreffend, wie Kai Willführ vom Rostocker Max-Planck-Institut für demografische Forschung und sein kanadischer Kollege Alain Gagnon jetzt festgestellt haben. Um Hinweise auf einen möglichen Aschenputtel-Effekt in früher existierenden »Patchworkfamilien« zu finden, durchforsteten die Wissenschaftler Kirchenbücher aus dem 17. bis 19. Jahrhundert, die zum einen aus der ostfriesischen Region Krummhörn, zum anderen aus der kanadischen Provinz Québec stammten. Anschließend ermittelten sie für beide Regionen, wie sich die Überlebenschancen eines Kindes veränderten, wenn dessen Vater nach dem Tod der Mutter wieder heiratete.

Ehe wir zu den Ergebnissen kommen, sei eine Bemerkung zur Begrifflichkeit gestattet. Obwohl man sich in Deutschland seit Jahren um einen politisch korrekten Sprachgebrauch bemüht, gibt es für die negativ belegten Wörter »Stiefeltern« und »Stiefkinder« bis heute keine brauchbaren Synonyme. Um diese Lücke zu schließen, hat der dänische Psychologe Jesper Juul vorgeschlagen, von »Bonuskindern« und »Bonuseltern« zu sprechen, denn für den neuen Partner eines Elternteils seien die von Letzterem mitgebrachten Kinder häufig eine Bereicherung, ein Bonus - und umgekehrt.

Doch zurück zur Studie. Wie die Forscher im Fachblatt »Biodemography and Social Biology« berichten, lässt sich für das vorindustrielle Krummhörn tatsächlich ein Aschenputtel-Effekt nachweisen. Das heißt: Bei einem Kind, das hier früh seine Mutter verlor und eine Stiefmutter bekam, war die Wahrscheinlichkeit, dass es seinen 15. Geburtstag nicht erlebte, doppelt so hoch wie bei einem Kind, dessen Mutter nicht starb. Hingegen wurden Kinder in der kanadischen Provinz nicht nachweislich benachteiligt, wenn ihr verwitweter Vater erneut heiratete. Wie ist das möglich?

In Kanada, so vermuten die Forscher, war während der Expansionsphase der Besiedlung jede Hand willkommen. Und so wurden Kinder von ihren nicht leiblichen Müttern in der Tat als eine Bereicherung für die Familie angesehen und nicht als Konkurrenz für die eigenen Kinder. Anders in Krummhörn. Hier war die wirtschaftliche Situation der meisten Familien so prekär, dass die Stiefmütter ihre leiblichen Kinder bevorzugten.

Auch wenn die Situation in Deutschland heute eine andere ist, macht die Studie eines deutlich: Ob und wie sehr sich Väter und Mütter in Patchworkfamilien um ihre nicht leiblichen Kinder und deren Entwicklung kümmern, ist nicht vorrangig eine Frage der Biologie. Es sind vielmehr die wirtschaftlichen Verhältnisse, die darüber entscheiden, ob in einer Familie alle Mitglieder ein menschenwürdiges Dasein führen können, oder ob darin jene »genegoistischen« Dispositionen zum Tragen kommen, die vermutlich als Reaktion auf den täglichen Mangel einst in unser Erbgut gelangt sind.

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