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Ein Satz und seine Geschichte

»Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört« – Oder: Warum Historiker Rundfunkarchive nutzen sollten

  • Bernd Rother
  • Lesedauer: 10 Min.
Es ist einer der berühmtesten Sätze der Wendegeschichte. Doch »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört« ist in Willy Brandts Rede vom 10. 11. 1989 vor dem Rathaus Schöneberg nicht gefallen.

Willy Brandt war ein Politiker des beginnenden Zeitalters elektronischer Medien. Fernsehen und Radio waren für ihn ebenso wichtig wie Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, um seine politischen Vorstellungen den Bürgerinnen und Bürgern nahezubringen. Etwa 13 000 Nachweise von Beiträgen mit und über Brandt bei den öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Hörfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland, die im Rahmen eines Projektes der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung von mir bisher zusammengetragen wurden, belegen dies.

Dennoch vertrauen fast alle Zeithistoriker, die sich mit Leben und Werk des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers beschäftigen, weiterhin ausschließlich schriftlichen Quellen. Die eingeschränkten Arbeitsbedingungen in vielen Rundfunkarchiven erklären dies nur zum Teil. Welche Probleme die Vernachlässigung von Quellen aus dem Bereich des Radios und des Fernsehens mit sich bringen kann, soll hier exemplarisch dargelegt werden.

Gilt das gesprochene Wort?
Bernd Rother, Jahrgang 1954, hat Geschichtswissenschaften studiert und unter anderem am Bonner Institut für Sozialgeschichte und am Moses-Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien gearbeitet. Seit 1999 ist er stellvertretender Geschäftsführer der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung in Berlin.
Die überparteiliche Institution erinnert an den sozialdemokratischen Politiker und Friedensnobelpreisträger. »Wir möchten die Erinnerung an Willy Brandt wach halten, das Interesse an der Geschichte des 20. Jahrhunderts wecken und zugleich dazu anregen, sich mit der Politik von heute zu beschäftigen«, heißt es bei der Stiftung. Zu ihren Aufgaben gehört, ausgewählte Dokumente und Schriften Willy Brandts herauszugeben und die Forschung über den SPD-Politiker voranzutreiben.
Bernd Rother hat seine Nachforschungen über den berühmten Brandt-Satz »Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört« und dessen Geschichte unter anderem im Jahr 2000 in der Fachzeitschrift DeutschlandArchiv unter der Überschrift »Gilt das gesprochene Wort?« publiziert. Dieser Artikel bewirkte, dass einige Autoren die unzutreffende Darstellung über die Herkunft des Satzes korrigierten, darunter das Deutsche Historische Museum.
Die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung veröffentlicht den tatsächlichen Wortlaut der Rede Willy Brandts entsprechend dem Mitschnitt des SFB auf ihrer Internetseite unter www.willy-brandt.de

Wenige Reden von Willy Brandt sind häufiger – vollständig oder in Auszügen – abgedruckt worden als die vom 10. November 1989 vor dem Rathaus Schöneberg zu Berlin. Und kaum eine seiner Formulierungen ist so sehr in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen, zum geflügelten Wort geworden, wie das Zitat in der Überschrift. In zahlreichen Publikationen wird beides, Rede und Zitat, zusammengeführt. Willy Brandt habe den berühmten Satz auf der Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg gesprochen.

So steht es im »Archiv der Gegenwart«, wo wir das Zitat finden: »Wir sind jetzt in der Situation, wo wieder zusammenwächst, was zusammengehört«. Im erstmals 1990 publizierten Sammelband des J.H.W. Dietz Nachf. Verlages mit Brandts »Reden zu Deutschland« lautet die entsprechende Passage: »Aus dem Krieg und der Veruneinigung der Siegermächte erwuchs die Spaltung Europas, Deutschlands und Berlins. Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört. Jetzt erleben wir, und ich bin dem Herrgott dankbar dafür, dass ich dies miterleben darf: die Teile Europas wachsen zusammen.« Diese Version bringt auch das »SPD-Jahrbuch 1988-1990«. Manfred Görtemaker datiert in seiner »Geschichte der Bundesrepublik Deutschland« ebenfalls den Satz auf die Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg am 10. November. Dies tut auch Hartwig Bögeholz in der »Chronik der Republik«; bei ihm lautet der Satz wieder so wie im »Archiv der Gegenwart.«

In der ständigen Ausstellung zu Willy Brandt im Rathaus Schöneberg heißt es unter Exponat 247 ebenfalls, dass Brandt den Satz auf der Kundgebung vor diesem Hause gesprochen habe. Im Katalog zur Ausstellung kann man lesen: »Als am 10. November 1989 die Mauer geöffnet wird, hält Willy Brandt vor dem Schöneberger Rathaus vor einer riesigen Menschenmenge die Rede, in die das Leitmotiv der Einigung eingebettet ist: ‚Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört‘.«

Überprüft man diese Darstellung an den überlieferten Tonmitschnitten, so zeigt sich, dass der Satz fehlt. Das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) Frankfurt/Main vermerkt sogar ausdrücklich: »Die bekannte Passage ‚Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört‘ kommt in dieser Aufnahme nicht vor«.

Auch die wohl früheste gedruckte Wiedergabe von Brandts Rede (»Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk auf der Welt.« Die Reden am 10. November 1989 vor dem Rathaus Schöneberg), publiziert von der Berliner Senatskanzlei, beinhaltet den Satz nicht. Es heißt dort: »Aus dem Krieg und aus der Veruneinigung der Siegermächte erwuchs die Spaltung Europas, Deutschlands und Berlins. Jetzt erleben wir, und ich bin dem Herrgott dankbar dafür, dass ich dies miterleben darf, dass die Teile Europas zusammenwachsen.« Schließlich ist auch in Willy Brandts »Nachschrift«, die er Ende November 1989 seinen »Erinnerungen« beifügte und wo er den Redeinhalt zusammenfasste, der berühmte Satz nicht erwähnt.

Ist der Satz also reine Erfindung? Hat ihn Brandt überhaupt nicht gesagt? Oder wann und wo fiel er wirklich? Die nachfolgend abgedruckten Dokumente sollen die Entstehungsgeschichte dieses Satzes, der zwar tatsächlich am 10. November 1989 von Willy Brandt verwendet wurde, aber nicht in seiner Rede vor dem Rathaus Schöneberg, deutlich machen.

Brandt hatte die Nachricht von Günter Schabowskis Pressekonferenz, auf der dieser das sofortige Inkrafttreten der Reisefreiheit für die DDR-Bürger mitteilte, am Abend des 9. November während einer Sitzung des Deutschen Bundestags erhalten.

Wie schnell sich die Dinge aber in Berlin und an der innerdeutschen Grenze entwickeln würden, ahnte Willy Brandt in diesem Moment ebenso wenig wie wohl alle anderen Beteiligten. Erst durch einen Anruf eines Journalisten zwischen 4 und 5 Uhr morgens erfuhr er, dass tatsächlich bereits die Mauer de facto gefallen war. Am Morgen des 10. November flog er mit einer britischen Militärmaschine nach Berlin. Während des Fluges machte er sich Notizen für eine Rede. In Berlin fuhr Brandt zum Rathaus Schöneberg und zum Brandenburger Tor, wo er bis zum frühen Nachmittag zahlreiche Interviews gab und eine kurze Ansprache hielt. Anschließend nahm er als Ehrengast an einer einstündigen Sitzung des Abgeordnetenhauses teil, die gegen 17 Uhr endete.

Direkt im Anschluss begann die Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg; die dort von Brandt gehaltene Rede basierte auf den erwähnten Notizen. Am Abend fuhr er – zusammen mit dem SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel – nach Ostberlin, um sich mit Mitgliedern der gerade erst gegründeten DDR-Sozialdemokratie und anderen Oppositionellen zu treffen.

Um die Entstehung des hier zur Diskussion stehenden Satzes zu rekonstruieren, habe ich die uns bekannten und zugänglichen Interviews von Brandt vom 10. November 1989 überprüft. Aber nicht alle Interviews, insbesondere die mit ausländischen Medien, konnte ich ausfindig machen. Das Ergebnis war, dass zumindest in zwei Interviews der berühmte Satz fiel. Weil der Mitschnitt von mehreren Sendern in unterschiedlicher Länge ausgestrahlt wurde, hatte es zunächst so ausgesehen, als ob er noch viel häufiger geäußert worden sei. (...)

Auffällig ist, dass der Satz nicht sofort Furore machte. Weder hat ihn die »Berliner Morgenpost« in der Überschrift der Interview-Wiedergabe übernommen noch erschien er in den nächsten Tagen in den Berliner Tageszeitungen.

Es scheint, dass er erst durch ein Plakat, genauer: eine »Wandzeitung« der SPD populär wurde. Die »Wandzeitungen« sind vorrangig für den Aushang in Schaukästen der SPD-Ortsvereine vorgesehen. Nummer 19/1989, etwa Ende November 1989 in einer Auflage von 6.000 Exemplaren hergestellt, zeigt ein Foto mit Willy Brandt vor dem Brandenburger Tor und daneben als einzigen Text den Satz »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört«, mit dem Zusatz »(Willy Brandt, 10.11.1989)«.

Nun hatte die SPD die Zugkraft der Brandtschen Formulierung erkannt. Am Eröffnungstag des Programmparteitags in Berlin vom 18. – 20. Dezember 1989 standen diese Worte als Motto an der Stirnseite des Saales; die stellvertretende Parteivorsitzende, Herta Däubler-Gmelin, eröffnete mit diesem Satz den Parteitag, der Parteivorsitzende Vogel paraphrasierte ihn, und schließlich wiederholte Willy Brandt selbst seinen Ausspruch in der Parteitagsrede. In der »Berliner Erklärung« zum Thema »Die Deutschen in Europa«, die der SPD-Parteitag am 18. Dezember 1989 beschloss, stand der Satz folgerichtig an prominenter Stelle. Seither ist er zum festen Bestandteil politischer Rhetorik und journalistischer Formulierungen geworden.

Wie aber entstand die gegenüber dem gesprochenen Wort veränderte schriftliche Überlieferung? Für das »Archiv der Gegenwart« lässt sich dies nicht mehr rekonstruieren. Anders beim Sammelband des Dietz-Verlages. Eine Anfrage ergab folgenden Sachverhalt: Bei der Erstellung der Textvorlage habe sich herausgestellt, dass der entsprechende Satz so in der Rede vom 10. November vor dem Rathaus Schöneberg nicht gefallen war (und auch nicht in den übrigen ausgewählten Reden). Weil aber als Titel des Buches bereits »... was zusammengehört« feststand, sprach der Lektor des Verlages Willy Brandt darauf an. »Willy Brandt teilte uns mit, dass er sich selbst auch nicht mehr genau erinnere, in welcher seiner Reden (oder Gespräche oder Interviews) er den fraglichen Satz gesagt habe. Er schlug uns dann vor, die fragliche Passage in der Rede vom 10. November 1989 unterzubringen, und zwar genau an der auf S.36 des Buchs enthaltenen Stelle. Er trug dies selbst handschriftlich ins Manuskript ein [...].«

Eine vom Verlagsleiter überlassene Fotokopie illustriert dies. Jedoch formulierte Willy Brandt: »Es wächst zusammen, was zusammengehört.« In der gedruckten Fassung wurde »Es« durch »Jetzt« ersetzt.

Die bis auf den eben erwähnten Satz identischen Publikationen der Senatskanzlei und des Dietz-Verlages enthalten jedoch, wie aus dem Vergleich mit dem SFB-Mitschnitt hervorgeht, noch weitere, insoweit äußerst problematische Abweichungen vom gesprochenen Wort.

Es wurde unter anderem eine wichtige Aussage Brandts in bemerkenswerter Weise verändert: Der gedruckten Fassung zufolge sagte Brandt: »Wenn ich meine Landsleute im anderen Teil Deutschlands gut verstehe, dann stimmen sie mit mir und ich denke mit uns allen hier überein. Keiner wünscht Schwierigkeiten mit den sowjetischen Truppen, die sich noch auf deutschem Boden befinden. Die bleiben auch nicht immer da. An der militärischen Präsenz wird sich etwas ändern.«

Tatsächlich aber sagte Brandt: »Wenn ich meine Landsleute im anderen Teil Deutschlands gut verstehe, dann stimmen sie mit mir und ich denke mit uns allen hier überein: keiner von ihnen wünscht Schwierigkeiten mit den sowjetischen Truppen, die sich noch auf deutschem Boden befinden. Die werden weniger werden. An der militärischen Präsenz anderer wird sich etwas ändern.«

Erwartete Brandt der gedruckten Version zufolge bereits am 10. November 1989 einen Abzug der sowjetischen (aber nur dieser) Truppen, so ging er in Wirklichkeit von einer Reduzierung aus, begleitet jedoch von einem Abbau auch der anderen in Deutschland stationierten Streitkräfte. Statt einseitig Erwartungen an die Sowjetunion heranzutragen, sah Brandt eine allseitige Reduzierung ausländischer Truppen in Deutschland voraus. Auch in vielen weiteren Passagen weicht der von der Senatskanzlei publizierte Text erheblich vom gesprochenen Wort ab.

Als Fazit bleibt, dass das Beispiel der Brandt-Rede die Risiken zeigt, sich – jedenfalls bei wichtigen Reden – allein auf die schriftliche Überlieferung zu verlassen. Auch wenn, wie zu hoffen ist, nicht immer so viele Diskrepanzen zum gesprochenen Wort zu erwarten sind, bleibt der Abgleich eine prinzipielle Forderung an Historiker.

Die gedruckte Fassung, sofern sie vom Redner autorisiert wurde, verliert dadurch nicht ihre Bedeutung. Aber sie dokumentiert eben nicht die politische Position des Redners bzw. die vom Redner vorgebrachten Argumente im Moment seines Auftrittes vor dem Auditorium und somit auch nicht das, was auf das Auditorium wirkte, sondern nur die reflektierte, womöglich durch neue Erkenntnisse zusätzlich beeinflusste spätere Bewertung.

PS: Der Gedanke »Nun wächst zusammen, was zusammengehört« war aus Willy Brandts Mund schon früher zu hören. Unter den Nachweisen von Fernsehsendungen des SFB über ihn findet man ein Feature mit dem Titel »Unter dem Pflaster einer Großstadt«, gesendet am 11. August 1958. In dem Beitrag, der von der gesamten ARD ausgestrahlt wurde, kam der damalige Regierende Bürgermeister mit einer am 31. Mai 1958 gehaltenen Rede zu Wort. Anlass war die Eröffnung eines neuen U-Bahn-Teilstückes in Berlin. Laut Abstract des SFB-Archivs drückte Brandt die Hoffnung aus, »dass eines Tages zusammengefügt sein wird, was zusammengehört«. Und am 12. August 1964, aus Anlass des dritten Jahrestages des Mauerbaus, erklärte Brandt: »Deutschland muss vereinigt werden, damit zusammengefügt wird, was zusammengehört.«

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