Zurück ins Verborgene

Die grassierende Homophobie in vielen Ländern steht im Kontext des Aufschwungs rechtspopulistischer Bewegungen

  • Jörn Schulz
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein Mann, der Sex mit einem anderen Mann oder »mit einer Frau in einem Ochsenkarren, im Wasser oder am Tag hat, soll bekleidet baden«. Diese Passage aus dem Buch des Manu ist die einzige Strafvorschrift für Homosexualität, die sich in traditionellen hinduistischen Schriften findet, und sie gilt nur für »zweimal geborene« Männer, Angehörige höherer Kasten, die ein besonderes Initiationsritual durchlaufen haben. Stellt man dem die Mythen von zweigeschlechtlichen Gottheiten und die Anerkennung eines »dritten Geschlechts« gegenüber, wird klar, warum die viktorianisch geprägten britischen Kolonialbeamten die indische Sexualgesetzgebung für unzureichend befanden und Homosexualität zur strafbaren Handlung machten. Im Jahr 2009 für rechtswidrig befunden, wurde das Gesetz vom Obersten Gericht am 11. Dezember wieder für gültig erklärt - zur Freude der nationalreligiösen Rechten, obwohl nicht die Homosexualität, wie sie behaupten, sondern deren Bestrafung ein Ergebnis westlicher Einflussnahme ist.

Die Kriminalisierung der Homosexualität in Indien ist der wohl härteste und hinsichtlich der Zahl der Betroffenen bedeutendste, aber nicht der einzige Rückschlag für die globale Lesben- und Schwulenbewegung (LGBT). Zum Teil gewalttätige Proteste gegen die Homo-Ehe in Frankreich, das Gesetz gegen »homosexuelle Propaganda« in Russland, die jüngst von einem Ex-Minister wieder angeheizte Debatte über die Todesstrafe für Homosexualität in Uganda, das in einem Referendum mit einer Zweidrittelmehrheit angenommene Verbot der Homo-Ehe als Verfassungsartikel in Kroatien - in den unterschiedlichsten Ländern werden verstärkt homophobe Tendenzen deutlich.

Dies ist, so paradox es klingen mag, das Ergebnis eines gesellschaftlichen Fortschritts. Denn die Kampagnen richten sich gegen Erfolge der LGBT-Bewegung und Bestrebungen zur rechtlichen Gleichstellung von Homosexuellen. Solange Homosexualität im Verborgenen gelebt wird, gilt sie meist nicht als politisches Problem. Dass in Saudi-Arabien, wo Homosexualität mit dem Tod bestraft werden kann, eine halboffene Szene existiert, die sogar schwule Sextouristen anzieht, dürfte der Religionspolizei nicht entgangen sein. Doch solange die Männer ihre Pflichten in Familie und Staat erfüllen, bleiben sie meist unbehelligt. Der Zwang zur Heimlichtuerei bedingt allerdings weitgehende Schutzlosigkeit gegenüber homophoben Ressentiments und Gewalt.

Die psychologischen Ursachen der Homophobie - die als Hass nach außen gewendete Unsicherheit über die eigene sexuelle Orientierung sowie die Ablehnung der Abweichung von der Norm und insbesondere von herkömmlichen Geschlechterrollen - haben wohl in allen patriarchalen Gesellschaften existiert. Wenn der Anwalt Ajay Kumar, einer der juristischen Repräsentanten der reaktionären Gruppen, die in Indien vor dem Obersten Gericht klagten, sich nun über die Stärkung von »Tradition, Kultur und Religionen« freut, mag man ihm daher zu intensiverer Lektüre der alten Schriften raten. Über die Verbreitung der Homophobie in früheren Zeiten sagt das Fehlen von Strafgesetzen gegen Homosexualität aber noch wenig aus, und das gilt auch für andere als Belege für traditionelle Toleranz angeführte Beispiele wie die homoerotische persische Dichtung, die eine höfische Angelegenheit war. Zudem wurden jenen, die sich offen der heterosexuellen Norm entzogen, meist marginalisierte Rollen zugewiesen.

Denn die Heirat ist in allen vorindustriellen Klassengesellschaften eine ökonomische Angelegenheit, ein Vertrag zweier Familien, unterschiedlich ist nur der Spielraum, der Männern nach Absolvierung ihrer ehelichen Pflichten zugestanden wird. Einen anderen Mann zu lieben, ist anrüchiger als sich eine Geliebte zu halten, da eine Verbindung zweier Patriarchen die Loyalität zur Familie in Frage stellt. Entsprechend geringer ist das Interesse, das weiblicher Homosexualität entgegengebracht wird, sofern Frauen nicht offen bekunden, dass sie ihren Körper patriarchaler Verfügung entziehen.

In Ländern wie Indien, wo die arrangierte Heirat die Regel und die Familie für die soziale Absicherung und das berufliche Fortkommen unentbehrlich ist, stehen dem Kampf gegen die Homophobie daher auch sozioökonomische Hindernisse im Weg. Emanzipatorische Bewegungen wie die LGBT-Gruppen werden überwiegend von Angehörigen der urbanen Mittelschicht getragen. Solche Gruppen gibt es jedoch mittlerweile in fast allen Ländern der Welt. Ihre Gegner sind moderne Reaktionäre und Rechtsextreme ähnlicher sozialer Herkunft, die die kapitalistische Entwicklung mit ihren patriarchalen Idealen in Einklang bringen wollen. Darin ähneln sie den homophoben Bewegungen des Westens.

Der Kapitalismus erlaubt in weitaus stärkerem Maß als frühere Klassengesellschaften eine freie Partnerwahl, sofern das Einkommen ausreicht, um sich aus familiären Zwängen zu lösen oder staatliche Sicherungssysteme bestehen. Diese Bedrohung patriarchaler Macht erzeugt Aggression, die politisierte Homophobie ist reaktionäre Globalisierungskritik. In sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländern äußert sich dies in dem Mythos, Homosexualität sei ein Import aus dem Westen. Im Westen wird der Erhalt der traditionellen Familie propagiert, damit aber die gleichberechtigt gelebte Homosexualität als zerstörerisch gebrandmarkt. Papst Benedikt XVI. stellte den Zusammenhang mit dem globalisierten Kapitalismus her, als er sagte, es sei ebenso wichtig, die Menschheit vor homosexuellem Verhalten zu schützen wie den Regenwald vor der Vernichtung zu bewahren. Doch auch die von Franziskus gepredigte »Barmherzigkeit« gegenüber Homosexuellen ist eine paternalistische Diskriminierung.

Die homophoben Kampagnen stehen im Kontext des Aufschwungs rechtspopulistischer Bewegungen, die nicht nur im Bereich des Sexuallebens eine neoviktorianische Wende anstreben, die großen und kleinen Patriarchen wieder zu ihren alten Rechten verhelfen soll. Leider ist keineswegs sicher, dass dies Rückzugsgefechte sind, denn unentbehrlich sind persönliche Freiheiten für die Marktwirtschaft nicht, wie das Beispiel zahlreicher kapitalistischer Diktaturen zeigt.

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