Dr. Finsterbusch sucht einen Nachfolger

Boitzenburg ist wunderschön. Dennoch wird hier bald ein Landarzt fehlen

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 9 Min.
Boitzenburg in der Uckermark. Vor Jahrzehnten fand er hier alles, wovon er geträumt hatte. Arbeitstage bis in die Nacht, die doch nicht nur aus Arbeit bestanden. Fahrten über Land, über was für ein Land! Wiesen, Felder, Mischwälder, unzählige Seen, alte Alleen. Und Patienten, die ihn brauchten. Die Patienten brauchen ihn immer noch. Die Felder, auf denen früher einmal Rüben und Kartoffeln wuchsen und auf denen nun Raps gedeiht, betören im Mai mit einem Gelb, das der Sonne Konkurrenz macht, und sind nur noch schöner geworden. Die Wiesen - weit wie eh und je, sogar bunter und üppiger als einst, als Pflanzenschutzmittel sie bändigten. Die Seen, auf denen er nach wie vor mit dem Ruderboot unterwegs ist, sind heute klarer, sauberer. Und die Alleen, deutlich gewachsen, sind dunkler, tiefer, zauberhafter. Und doch ist der Zauber für ihn verflogen. Sorgen sind an seine Stelle getreten. Wer wird sich um seine Patienten kümmern, wenn er es bald nicht mehr kann? Er kann es ja schon heute kaum noch. Landarzt Dr. Manfred Finsterbusch wird 68 und sucht einen Nachfolger. Genau genommen hat sich Dr. Finsterbusch schon vor Jahresfrist zur Ruhe gesetzt. Aber noch nicht ganz. Ein paar Stunden am Tag betreut er noch ein paar Patienten - seine ältesten. Zu ihnen gehört Oma Bandemer in Kuhz. Kuhz ist ein Dörfchen im Kreis Templin, nur wenige Kilometer von Boitzenburg entfernt. Rund um den Kirchhof blüht der Flieder, und nur selten, ganz selten, stört ein Auto das Vogelgezwitscher. Oma Bandemer bewohnt ein kleines Haus mit Garten, schon seit einer Ewigkeit. Den Garten kann sie nicht mehr selbst bestellen, zum Glück übernimmt das jetzt ihr Enkel. Dr. Finsterbusch ist den gepflasterten Weg zur Haustür schon zig Mal gegangen. Seine Patientin ist zu alt, um noch in die Praxis kommen zu können. Deshalb besucht er sie zu Haus, und wie immer hat sie sich auf »den Doktor« gefreut. Denn er geht nicht ohne ein Schwätzchen. Das Schwätzchen braucht sie fast noch mehr als die Tabletten, die er mitbringt. Er kennt sie noch aus einer Zeit, als sie ihre eigene Gastwirtschaft führte - daran, sie ist 95, erinnern sich nur wenige. Dass »der Doktor« bald ganz aufhört, ängstigt Oma Bandemer. Noch mehr Angst macht ihr, dass er bisher niemanden gefunden hat, der seine Nachfolge antreten möchte. »Es ist doch so schön bei uns«, sagt sie ungläubig. Der alte Arzt beruhigt sie: Er werde weitersuchen, sei optimisch. Die Wahrheit ist: Er sucht seit vier Jahren. Von der Handvoll Interessenten, die sich bei ihm meldeten, fand sich letztlich keiner bereit, seine Praxis zu übernehmen. Und wenn er Oma Bandemer beruhigen kann, so kann er sich selbst nicht beruhigen. Er hat viele alte Patienten, die nicht mehr in den Bus steigen oder gar Autofahren können, geschweige denn ein Auto besitzen. Knie kaputt oder Hüften kaputt - das bleibt nach vielen Jahren Arbeit. Ohne einen Arzt, der sie besucht, wären diese Menschen hilflos. Er fühlt sich noch immer verantwortlich. Vor einem halben Jahrhundert haben die Fachärzte für Allgemeinmedizin Dr. Manfred Finsterbusch und seine Frau Barbara in Boitzenburg angefangen. Mit zehn Jahren Unterbrechung, die sie im Stralsunder Umland arbeiteten, hielten sie bis jetzt die Stellung. Sie holten Kinder auf die Welt, heilten Röteln, Durchfall, Ziegenpeter, Husten, Schnupfen, Knochenbrüche. Besonders stolz ist der alte Arzt darauf, dass es ihm gelungen ist, diesen oder jenen Patienten auf »Alkohol Null« zu setzen. Seine Methode funktioniert natürlich nur auf dem Dorf und ist nicht ganz unumstritten: Zu DDR-Zeiten ging er einfach in den Konsum und wies an: »Der Egon, der bekommt nichts mehr!« Heute macht er das im Getränkeladen von Karin Krentz genauso, aber der ist nicht mehr der einzige, denn im Gegensatz zu Arztpraxen sind die Supermärkte auch in der Uckermark wie Pilze aus dem Boden geschossen. Dennoch, wer Hilfe will, dem hilft er, genauso wie seine Frau Barbara. Nahezu jeder Boitzenburger, der nicht zugezogen ist, saß in ihren Sprechzimmern, und wenn sie durch das Städtchen gehen, grüßt man sie an jeder Ecke. Landarzt sein - für die Finsterbuschs war das Erfüllung. Jetzt ist es nur noch Anstrengung, Last. Auch Dr. Barbara Finsterbusch wird in Kürze 64 und ist am Ende ihrer Kraft. In den umliegenden Ortschaften sieht die Situation kaum besser aus: Frau Dr. Grafe in Gollmitz ist 69, Sanitätsrat Redel in Warnitz 71, Dr. Ludwig, Herr und Frau Dr. Grunwald in Gerwalde sind 64, 65 und 60, Dr. Wachs, Frau Dr. Haberl und Frau Dr. Lischka in Lychen sind 66, 63 und 60, Dr. Strauss in Fürstenwerder ist 66, Dr. Salow in Brüssow 65, ebenso Dr. Schmidt in Göritz. Einige von ihnen wollen noch etwas durchhalten, andere nicht mehr. Im »normalen Arbeitsalter« befinden sich im Kreis Templin lediglich noch Frau Dr. Schumacher in Lychen, Frau Dr. Härtel und Frau Dr. Wiechel in Milmersdorf. Und Frau Kietzmann in Boitzenburg. Mit Karin Kietzmann teilen sich die Finsterbuschs eine Gemeinschaftspraxis. »Allein«, sagt Finsterbusch, »kann sie das Pensum nicht schaffen«. Die Praxisräume sind freundlich und modern eingerichtet, dennoch, sie stimmen den alten Arzt traurig: »Das sind die Reste einer der größten medizinischen Einrichtungen der Gegend«, sagt er. Er spricht von dem Landambulatorium, das 1955 gebaut worden war, um die medizinische Grundversorgung für Boitzenburg und Umgebung zu sichern. Finsterbusch war der ärztliche Leiter. »Damals«, erinnert er sich, »hatten wir drei Allgemeinmediziner und einen Internisten, der von der Gastro- bis zur Rektoskopie alles beherrschte. Wir hatten einen Facharzt in Ausbildung, sieben Gemeindeschwestern, zwei Zahnärzte, eine Kinderstomatologin, eine wunderbare Zahntechnik, einen Röntgenapparat, einen Physiotherapeuten, ein Labor, eine Mütter- und Säuglingssprechstunde, einen Gyn-Stuhl, sodass ein Kollege aus der Kreisstadt herkommen konnte, ein Augenarzt kam, eine Kinderärztin, und wir hatten eine Impfschwester ...« Kein Kind sei damals geschlagen worden, die Impfschwester hätte es bemerkt, da sie ständig kontrollierte - niemand hätte es gewagt. Dass es sich bei der Gemeinschaftspraxis um die Reste des ehemaligen Ambulatoriums handelt, stimmt allerdings nicht ganz. Die Praxis ist vielmehr das, was von der medizinischen Betreuung in Boitzenburg übrigblieb. Das Gebäude des Ambulatoriums wird längst anderweitig genutzt, als Sitz des Amtes Boitzenburg Land. Es muss Dr. Finsterbusch weh tun, als er mit uns die Treppen zum Bürgermeisterzimmer hinaufsteigt. Aber das nimmt er in Kauf, denn er sucht einen Nachfolger. Und Bürgermeister Bernhardt Rengert ist dabei sein natürlicher Verbündeter. Er war mit Finsterbusch sogar auf der Ärztebörse (»peinlich, diese Veranstaltungen, wie Viehmärkte, dabei geht es um Ärzte!«) und soll uns bestätigen, wie dringend ein neuer Landarzt gebraucht wird. Rengert signalisiert sogar äußerste Dringlichkeit: »Wir sind bereit«, gibt er zu Protokoll, »jungen Ärzten hier Tür und Tor zu öffnen. Wir würden ihnen die Wertschätzung entgegenbringen, die sie verdienen, denn ein Arzt ist für uns etwas Wertvolles, etwas für die Zukunft.« Wer dabei zum Beispiel an ein Häuschen denkt, das man einem jungen Arzt nicht abschlagen würde, der denkt richtig. Zu DDR-Zeiten hatte das Ambulatorium 6500 Menschen zu betreuen, heute leben im selben Einzugsgebiet keine 3000 mehr. Junge Leute sind weggezogen, alte gestorben, Kinder wurden wenig geboren. Die Gemeinschaftspraxis Finsterbusch/Kietzmann, deren Räume die Ärzte übrigens nach der Wende kauften, würde für die medizinische Betreuung ausreichen, wenn ihr Bestand denn gesichert wäre. Doch wie gesagt, das ist er nicht, und Finsterbuschs machen dafür die Politik verantwortlich, namentlich Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. »Demokratie ist, wenn diejenigen, die keine Ahnung haben, bestimmen«, wirft Dr. Barbara Finsterbusch bitter ein. Das kann, man wird sich vielleicht erinnern, auch in der Diktatur vorkommen, aber deshalb muss, was sie sagt, nicht falsch sein. Was Nichtmediziner, speziell eine Lehrerin für Sonderpädagogik, heute mit Ärzten machen dürfen - Finsterbuschs sind empört. Und darin sind sie sich mit vielen ihrer Kollegen einig. »Sie dürfen Ärzte kujonieren und den Ruf des Berufsstandes ruinieren.« Vor allem deshalb ist Dr. Barbara Finsterbusch so müde. Zum Beispiel die Budgetierung. Egal, wie viele Patienten zu ihnen kommen und behandelt werden müssen - etwa ein Drittel ihrer Leistungen werden von den Kassen nicht bezahlt. Die Menschen werden älter, hinfälliger, doch statt das Budget daran auszurichten, müssen die Ärzte das Krankheitsriko der Bevölkerung tragen. Zudem macht man sie zu Sündenböcken: Sie verschrieben zu viele und zu teure Medikamente, Untersuchungen, die sie anordnen, seien überflüssig und unnütz. In den Augen des alten Landarztes eine Gehässigkeit: »Wer so was von sich gibt, will Ärzte demütigen.« Das Stichwort für ihn heißt Wertschätzung. »Unsere Arbeit ist eine besondere, wir arbeiten mit kranken Menschen. Wenn Ärzte nicht mehr Ärzte, sondern im offiziellen Sprachgebrauch Leistungserbringer heißen, ist Wertschätzung nicht mehr gegeben. Auch nicht für die Menschen, die sie behandeln - um die Menschen geht es nicht mehr. Ich möchte kranken Menschen helfen, nicht nach Kassenlage verarzten dürfen.« Finsterbusch war auf jeder Ärztedemo, genützt hat es nicht. So wundert es ihn überhaupt nicht, dass inzwischen schon mehr als 12 000 deutsche Ärzte im Ausland arbeiten. Ärzte, die man hier brauchte. Gerade in der Uckermark, die zu den medizinisch unterversorgten Regionen Brandenburgs gehört. Dr. Finsterbusch sucht einen Nachfolger. Er sucht nicht nur einen Nachfolger für sich, sondern auch einen für seine Frau. Einen für zwei Landärzte, die endlich zur Ruhe kommen möchten - mit ihrer beider Patienten könnte ein Nachfolger »über die Runden kommen«. Aber wie macht man jemandem eine Arbeit schmackhaft, die einem selbst keinen Spaß mehr macht? Wenn Dr. Finsterbusch eine Annonce aufsetzen müsste, würde er sie etwa so formulieren: »Junger Arzt gesucht, der noch Kraft hat. Der noch darauf hofft, dass sich etwas zum Guten wendet. Arzt gesucht, der die Landschaft schätzt und zugleich die "Uckis" mag. "Uckis" sind etwas schwerfällig, aber herzlich, wenn man sie kennt. Die Praxiskredite sind abbezahlt, wer übernimmt, muss kein Geld mitbringen; man wird sich irgendwie einigen. Arzt gesucht, der nicht reich werden will, sondern dem die Menschen das Wichtigste sind.« Kann sein, dass solche Ärzte mit Finsterbuschs Generation aussterben. Dass es solche Ärzte in der Generation Leistungserbringer schon bald nicht mehr geben wird, weil sie es nie kennen lernten. Finsterbusch versucht es dennoch noch einmal. Er zeigt uns die Schönheiten seiner Stadt, damit wir sie aufnehmen in den Bericht: das renovierte Schloss derer von Arnim mit Hotel und Restaurant, gelegen in einem herrlichen Park, den der Gartenkünstler Lenné anlegte; den Tiergarten, ein Naturschutzgebiet mit gut ausgeschilderten Wanderwegen; die Ruine des Zisterziensernonnenklosters und die restaurierte Klostermühle, die ein Museum mit alten Geräten beherbergt ... Dr. Finsterbusch ist krank. Vor Krankheit sind auch Ärzte nicht gefeit. Schon gar nicht, wenn sie mit ansehen müssen, wie ihr Lebenswerk zerstört wird. Finsterbusch sieht ratlos aus: »Ich kann doch nicht einfach aufhören und sagen, das geht mich nichts mehr an!« Wenn er keinen Nachfolger findet, dann wird er genau das müssen.
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