Sturmzeichen über der Ukraine

Fortgesetzte unkritische Parteinahme des Westens für die Opposition ist kontraproduktiv

  • Manfred Schünemann
  • Lesedauer: 5 Min.
Nach den relativ ruhigen politischen Grabenkämpfen während der Feiertage zum Jahreswechsel stehen die Zeichen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew wieder auf Sturm.

Am Wochenende eskalierten die Protestaktionen der Opposition, gewaltbereite Oppositionsgruppen griffen massiv die Sicherheitskräfte an. Bei diesen Gruppierungen handelt es sich vor allem um Anhänger radikal-nationalistischer Organisationen aus der Westukraine, die der Partei »Swoboda« (Freiheit) nahe stehen. Durch Gewaltaktionen gegen Gedenkveranstaltungen anlässlich der Befreiung von der Naziokkupation, durch die Zerstörung von Denkmälern aus der Sowjetzeit und Attacken gegen Veteranen der Sowjetarmee traten sie bereits wiederholt in Erscheinung.

Bisher wurden diese Kräfte von den anderen Oppositionsparteien wohlwollend in die Proteste gegen die Regierung einbezogen, Gewaltaktionen wurden in Kauf genommen. Spätestens die tätlichen Angriffe auf Vitali Klitschko am vergangenen Wochenende sollten zu einer Änderung dieser Haltung und zu klarer Abgrenzung von gewaltbereiten Kräften führen.

In den zurückliegenden Wochen gerieten die ursprünglichen Ziele der Proteste - sofortige Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU, Rücktritt der Regierung, vorzeitige Präsidentschaftswahlen, Freilassung Julia Timoschenkos - immer mehr in den Hintergrund. Die Oppositionsparteien mussten erkennen, dass Aktionen auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew nicht ausreichen, um im ganzen Land eine Volksbewegung gegen Präsident Viktor Janukowitsch und die Regierung unter Mikola Asarow zu initiieren. Andererseits erfüllte sich auch die Hoffnung des Regierungslagers nicht, dass sich die Proteste über die Feiertage von selbst auflösen würden und die Opposition dann bereit wäre, in einen ernsthaften Dialog über die Politik gegenüber der EU und Russland einzutreten.

Beiden Lagern fehlt es offensichtlich an realistischen Konzepten zur Beendigung der politischen Krise. Das bisherige Vorgehen zeugt vielmehr von Mangel an Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten. Die chaotisch verlaufene Parlamentssitzung in der vergangenen Woche bewies dies erneut. Seit Wochen blockieren die Oppositionsparteien eine ordnungsgemäße Parlamentsarbeit und scheuen auch rechtswidrige Aktionen nicht. So wurde Parlamentspräsident Wolodymyr Rybak in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen, Abstimmungskarten von Abgeordneten der Regierungspartei wurden entwendet. Daher wurden die Gesetze über den Staatshaushalt 2014, zur Strafrechtsänderung und zur stärkeren Kontrolle zivilgesellschaftlicher Organisationen teilweise unter Umgehung der Geschäftsordnung verabschiedet. Die scharfe Reaktion der Opposition und des Westens ließ nicht auf sich warten: Die neuen Gesetze wurden als »Eingrenzung fundamentaler Bürgerrechte«, Schritt zur »Errichtung eines diktatorischen Regimes« und Abkehr von den »demokratischen Grundwerten Europas« gewertet. Radikale Oppositionspolitiker sehen in den neuen Gesetzen gar einen »Rückfall in die Stalinzeit«.

Eine Lösung der innenpolitischen Krise wird angesichts der jüngsten Ereignisse immer weniger wahrscheinlich. Viele Zeichen deuten auf eine Dauerkonfrontation bis zur Präsidentenwahl 2015. Deren Ausgang ist offen, denn die Wählerpotenziale beider Lager sind seit Jahren etwa gleich stark. Selbst bei einem Wahlsieg der jetzigen Opposition bliebe die tiefere Ursache der Krise, die Zerrissenheit der Gesellschaft in Sachen Weg und Ziel des Wandels seit Erlangung der Unabhängigkeit, unverändert bestehen. Wohl ist sich die Gesellschaft weitgehend einig, was die Eigenständigkeit der Ukraine und ihren »Kurs der europäischen Orientierung« betrifft. Dieser Kurs gehört seit der Amtszeit des Präsidenten Leonid Kutschma (1994-2005) zu den Grundsätzen der ukrainischen Politik. Doch immer noch fehlt ein nationaler Konsens über die konkrete Ausgestaltung.

Realistisch betrachtet, wird sich daran in absehbarer Zeit nichts Wesentliches ändern. Zu groß sind die geistig-kulturellen Unterschiede zwischen der Masse der Bevölkerung im Osten und den Ukrainern im Westen des Landes, wie sich immer wieder an der Haltung zu Russland zeigt. Dazu kommt die Verflechtung großer Teile der ukrainischen Wirtschaft mit Russland, die nicht nur im Energiebereich zu gravierenden Abhängigkeiten führt.

Jeder realistische Politikansatz muss diesen unterschiedlichen Befindlichkeiten Rechnung tragen und um einen nationalen Konsens in den Hauptfragen der Gesellschaftsentwicklung und der Bindungen des Landes an Ost und West bemüht sein. Nur sind bisher leider alle politischen Kräfte in der Ukraine diesbezüglich ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. Sie hatten oder haben stets nur das eigene Machtstreben oder ihren Machterhalt im Auge, was zu Politikverdrossenheit, Misstrauen und politischer Instabilität geführt hat.

Wesentliche Verantwortung für die anhaltende innenpolitische Konfrontation in der Ukraine tragen die USA, die EU und auch Russland mit einer Politik, die Kiew stets vor die Entscheidung stellt, sich entweder für den Westen oder für Russland zu entscheiden. Dazu unterstützen sie jeweils »ihre« politischen Kräfte im Lande finanziell, logistisch und medial. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat bei seinem Amtsantritt im Auswärtigen Amt zu Recht betont, dass sich »die Europäer mit Blick auf die Ukraine-Politik auch an die eigene Nase zu fassen haben« und sich fragen müssen, »ob wir nicht gesehen haben, dass es dieses Land überfordert, wenn es sich zwischen Europa und Russland entscheiden muss«.

Die Frage ist völlig berechtigt. In der praktischen Politik werden die einseitige Schuldzuweisung an die Regierung in Kiew und die unkritische Parteinahme für die Opposition jedoch unverändert fortgesetzt. Das zeigen die offiziellen Stellungnahmen aus Berlin, Brüssel und Washington zur jüngsten Entwicklung.

Die EU und auch die deutsche Politik haben immer noch keine sachliche Analyse der Ursachen des Scheiterns des Assoziierungsabkommens vorgenommen und keine realistischen Konzepte zur Einbindung der Ukraine entwickelt. Ein Ansatz könnten die von Janukowitsch vorgeschlagenen Dreierverhandlungen zwischen der EU, der Ukraine und Russland sein. Die Ergebnisse solcher Verhandlungen könnten ein wesentlicher Beitrag zur Lösung der Krise und zur dauerhaften Stabilisierung der ukrainischen Gesellschaft sein. Dazu dürfte man sich freilich nicht allein auf das Schmieden einer »Einheitsfront« der Opposition und die Forderung nach einem gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten konzentrieren, sondern müsste die Opposition auffordern, die demokratisch legitimierte staatliche Ordnung zu respektieren, extremistische Kräfte zu isolieren und einen nationalen Dialog über Grundfragen der Gesellschaftsentwicklung zu beginnen.

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