Wenn das innere Feuer erlischt

Entwickelt sich das Burnout-Syndrom zur Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts?

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.
Im Winter 2001/2002 schrieb der deutsche Skispringer Sven Hannawald Sportgeschichte: Als erster und bisher einziger Athlet gewann er alle vier Wettbewerbe der deutsch-österreichischen Vierschanzentournee. Er holte Gold und Silber bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City und verteidigte, ebenfalls als erster Athlet, seinen Titel als Skiflugweltmeister. Doch schon in der darauffolgenden Saison zeigte der 28-Jährige unerklärliche Schwächen. Er erlitt Niederlage auf Niederlage und im April 2004 einen körperlichen Zusammenbruch. Diagnose: Burnout. Im August 2005 beendete Hannawald seine Karriere vorzeitig, da er sich nicht weiter den Strapazen des Profisports aussetzen wolle, wie er gegenüber Journalisten erklärte. Der »Fall Hannawald« ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Auch andere Prominente tappten in die Burnout-Falle und mussten unfreiwillig eine berufliche Auszeit nehmen: der ehemalige Bayerntrainer Ottmar Hitzfeld, der puertoricanische Popstar Ricky Martin, die US-Schauspielerin Renée Zellweger, der Skandal-Rapper Eminem. Sogar die deutsche Porno-Queen Sibylle Rauch war vor zwei Jahren so erschöpft, dass sie Hilfe in einer Klinik suchte. Die englische Vokabel »burn out«, welche wörtlich übersetzt »ausgebrannt« bedeutet, beschreibt mithin sehr bildhaft den psychischen Zustand von Menschen, die sich innerlich leer und verbraucht fühlen. Sie können daher kaum noch ihre beruflichen Aufgaben erfüllen und verhalten sich anderen Menschen gegenüber oft distanziert, herzlos, sogar zynisch. Was sind die Ursachen dafür? Glaubt man dem deutsch-amerikanischen Psychoanalytiker Herbert Freudenberger, der den Begriff »Burnout-Syndrom« 1974 in die medizinische Diskussion eingeführt hat, dann resultiert diese innere Erschöpfung aus einer Überbelastung, wie sie vornehmlich bei sozialen Tätigkeiten auftritt. Tatsächlich ist in zahlreichen Publikationen noch heute die Rede davon, dass Menschen in Sozialberufen besonders gefährdet seien, ein Burnout-Syndrom zu entwickeln: Krankenschwestern, Ärzte, Sozialarbeiter, Psychotherapeuten, Lehrer. »Seit zwei Jahren quäle ich mich nur noch in die Schule. Häufig ging es mir so schlecht, dass mein Hausarzt darauf bestand, mich krankzuschreiben«, erzählt Marion A., 49 Jahre alt, Realschullehrerin. »Selbst in den Ferien kann ich mich nicht mehr erholen. Wenn ich nur an die Schule denke, an das, was dort von mir erwartet wird, dann zieht es mir förmlich die Beine weg. In diesem Zustand kann ich einfach nicht mehr unterrichten, so gern ich es auch wollte.« Marion A. ist beileibe kein Einzelfall. Einer Umfrage zufolge fühlen sich 30 bis 35 Prozent aller Lehrer in Deutschland ausgebrannt. Beim medizinischen Pflegepersonal sind es sogar 40 bis 60 Prozent, bei Ärzten 15 bis 30 Prozent. Gleichwohl gilt Burnout bis heute nicht als Krankheit, und kein Arzt dürfte deswegen streng genommen eine Behandlungsdiagnose stellen. Denn im WHO-Katalog der psychischen Erkrankungen, der auch für deutsche Mediziner verbindlich ist, kommt das Burnout-Syndrom lediglich als Zusatzkategorie vor, als Faktor, »der den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten führen kann«. Damit kontrastiert die Tatsache, dass in der Bundesrepublik das Burnout-Syndrom längst epidemische Ausmaße erreicht hat. »Jeden kann es treffen - Burnout ist auf dem Weg zur Volkskrankheit«, warnen die Psychotherapeuten Andreas Hillert und Michael Marwitz in ihrem Buch »Die Burnout-Epidemie«. Darin spüren sie auf sehr anregende Weise den medizinischen und sozialen Ursachen dieser Entwicklung nach und zeigen zuletzt Möglichkeiten auf, wie man das Burnout-Syndrom in der Praxis erfolgreich behandeln kann. Zwar sind in Deutschland die durch Krankheit bedingten Fehlzeiten in den letzten Jahren drastisch gesunken: von 25 Kalendertagen im Jahr 1990 auf 13 Kalendertage im Jahr 2005. Die Zahl der psychischen Erkrankungen hingegen hat sich im gleichen Zeitraum mehr als verdoppelt. Die Erklärung hierfür liegt auf der Hand, und sie wird durch diverse Umfragen bestätigt: Menschen leiden dann vermehrt unter psychischen und psychosomatischen Störungen, wenn sie im Beruf einem hohen Leistungsdruck ausgesetzt sind, ständig Konflikte mit Kollegen oder Vorgesetzten haben und überdies befürchten müssen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Kurzum, die Teilhabe an der Dynamik des globalisierten Marktes geht bei vielen Beschäftigten zu Lasten der psychischen Gesundheit. Eine Frage allerdings bleibt in diesem Zusammenhang unbeantwortet: Warum leiden nach offizieller Lesart vor allem Lehrer, Ärzte und Sozialarbeiter unter Burnout? Weil diese Menschen, so glaubte man ursprünglich, sich besonders intensiv um ihre Schüler, Patienten und Klienten kümmern. Und nur wer für seine Tätigkeit entflammt ist, kann später ausbrennen. Hillert und Marwitz teilen diese Sicht der Dinge aus guten Gründen nicht: »Burnout wird damit geradezu zur Auszeichnung gegenüber Nichtausgebrannten. Letztere waren offenbar nicht engagiert und/oder viel egoistischer auf ihr eigenes Wohlbefinden bedacht.« Die Realität sieht ohnehin anders aus. Auch unzählige Arbeiter und Angestellte im produzierenden Gewerbe müssen im Berufsalltag extreme Belastungen bewältigen. Scheitern sie trotz allen Engagements, sind typische Burnout-Beschwerden die Folge: Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Verdauungsprobleme, um nur die wichtigsten zu nennen. Andererseits ist eine Krankheit mehr als die Summe ihrer Symptome. Sie ist immer auch ein soziales Konstrukt, welches die Wahrnehmung des Krankseins maßgeblich beeinflusst. Im Fall von Burnout heißt das: Um sich als »ausgebrannt« erleben zu können, müssen die Betroffenen über entsprechende Begriffe verfügen, die diesen Zustand adäquat beschreiben. »Diesbezüglich waren Sozialberufler den Menschen im produzierenden Gewerbe bislang um einige Schritte voraus«, so die Autoren. Lehrer und Ärzte brennen also nicht deswegen häufiger aus, weil ihre Tätigkeit besonders belastend wäre, sondern weil sie in der Kommunikation geübt sind und lange über ein exklusives Krankheitsmodell verfügten, welches inzwischen allen Arbeitnehmern zugänglich ist. Nicht umsonst hat Burnout derzeit Hochkonjunktur. Gleichwohl sind Hillert und Marwitz überzeugt, dass ähnlich wie die Neu-rasthenie (nervöser Erschöpfungszustand) im 19. Jahrhundert auch das Burnout-Syndrom als sozial-medizinisches Phänomen irgendwann wieder verschwinden wird. Doch wann wird das sein? Ihre Antwort: »Wenn die Betroffenen es sich nicht mehr leisten können auszubrennen.« Eine solche Situation ist im Grunde schon heute gegeben, denn in der kapitalistischen Arbeitswelt gilt Burnout gemeinhin als individuelles Versagen, welches häufig mit einer beruflichen oder sozialen Degradierung bestraft wird. Die Zukunft des Burnout-Syndroms hängt daher nicht nur von den Betroffenen selbst ab. Vielmehr sollten Staat und Wirtschaft begreifen, dass es für eine Gesellschaft kontraproduktiv ist, immer mehr Menschen im Berufsleben frühzeitig ausbrennen zu lassen. Andreas Hillert/ Michael Marwitz: Die Burnout-Epidemie oder Brennt unsere Leistungsgesellschaft aus? Verlag C.H. Beck. 336 Seiten. 19,90 Euro

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