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One und dann?
Gegne den amerikanischen Strom: Lob des Einzelkinds
Howdy aus Texas, liebe Lesende,
ich weiß nicht, was mich in Texas mehr zum Freak macht, die Tatsache, dass ich, ein Einzelkind und Tochter zweier Einzelkinder, zusammen mit einem anderen Einzelkind ein Einzelkind in einem Kinder verehrenden und mit Großfamilien gepflasterten Bundesstaat großziehe, oder die Tatsache, dass ich komplett ohne Religion aufgewachsen bin und weiterhin ungläubig verbleibe in einem simplifizierte Bibelverse verehrenden und mit Container-Kirchen gepflasterten Bundesstaat.
Beide Irregularitäten habe ich meinem Geburtsland Russland zu verdanken, und beide hängen zusammen. In der UdSSR hatte Religion keinen leichten Stand; politische, soziale und sonstige Unsicherheit waren aber Folge der Revolution, und so gingen die Geburtenraten rasant zurück. Statt sein Leid in der Religion zu ertränken, wurde der Sowjet atheistisch, abergläubisch und betrunken. Plötzlich schien ein einziges Kind für viele ganz normal. Im Vergleich zu Bewohnern anderer armer Länder, die sich möglichst viele Kinder zum Überleben anschaffen und sie in der Landwirtschaft einsetzen, hatten in Sowjetrussland die Kolchosen dafür gesorgt, dass der Armutspegel ungeachtet der Fruchtbarkeit für alle gleich war. Wozu dann noch mehr Unsicherheit heraufbeschwören, dachten sich viele Sowjets, deren Absage an die Großfamilie ich auch ohne unermessliches Leid befürworte.
Nun soll es in diesem Text aber ausnahmsweise nicht um mich gehen, sondern um meine Tochter. Wird auch sie ein Freak wie ich? Die Russen-Eltern und sonstige Ex-Post-Sowjets, die ich in Texas treffe, sind oft gebärfreudig, weil wieder religiös. Da stellt sich heraus, dass eine Reihe amerikanischer Splitterreligionen wie Pfingstler, Mormonen und Baptisten in den 90ern in Osteuropa Gläubige anwarben. Natürlich wurden alle aus Überzeugung fromm und wollten nicht einfach schnell und kostenfrei nach Amerika auswandern!
News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.
Diejenigen in meinem Bekanntenkreis, die noch Atheisten und Einzelkinder sind, haben sich hier in den USA aus angeblicher Einsamkeit (oder kultureller Aneignung?) dazu entschieden, eine Großfamilie zu gründen. Überhaupt leben sich hiesige Minderheiten nachwuchsmäßig total aus, Chinesen kriegen so viele Kinder, wie sie wollen, ohne dass der Staat sie wie früher drangsaliert, Inder sind glücklich über Töchter, weil Frauen etwas wert sind. Spannend, was ein Leben in Progressivität und Wohlstand (zumindest bis jetzt) mit der Familienplanung so anstellen kann.
Aber ich bleibe standhaft. Wenn ich als erfülltes Einzelkind mit einem ebenso erfüllten Einzelkind eine Sache gelernt habe, dann dass man seine Zufriedenheit über die Minifamilie oft und ungeniert teilen muss, um nicht fälschlicherweise bemitleidet oder unnötig ausgefragt zu werden. Als »One and done« bezeichnen sich US-Eltern mit einem einzigen Kind, die nichts mehr planen oder bereuen und alle zweifelhaften Unterstellungen missglückter Versuche und leisen Weiterhoffens im Keim ersticken wollen, und so stelle ich mich auch immer vor. Schließlich war gar Jesus irgendwie Einzelkind, also nicht laut Bibel, aber doch der gängigen Exegese.
Ich dachte, ich hätte auch für die Religionslosigkeit eine Lösung parat. Wenn ich nicht gerade an dieser Kolumne schreibe, bin ich im Kunstmuseum anzufinden, wohin ich meine Tochter gern mitnehme. Religiöse Gespräche ergeben sich bei der Bildbetrachtung, ohne dass man in die Kirche müsste (das tue ich nur für Sie).
Nachdem meine Tochter mich einmal wieder ausführlich zur Via Dolorosa, zu Marias Outfit und Veronikas lustigem Gesichtstuch ausgefragt hatte, wandte sie sich einem sexy Bildnis von Venus und Mars zu: »Wer sind die denn?« – »Andere Götter«, sagte ich. »Kann man sich aussuchen, welchen Gott man am besten mag?«, fragte sie mich. Genial, dachte ich, meine Freude kaum verbergend, ich habe eine religionsinteressierte Agnostikerin erzogen!
Aber die Euphorie hielt nicht lange. Meine Tochter ist wieder zu Christus zurückgekehrt, fröhlich mit Freundinnen im Bibel-Sommercamp Lovesongs an ihn summend und ein »Jesus is King«-T-Shirt tragend. Zumindest kann ich von mir behaupten, dass ich meine Tochter etwas mehr integriert habe als meine Eltern mich damals. Und hoffen, dass sie nicht versucht, mich zu bekehren, wie die Amis einst die Osteuropäer.
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