»Putin hält alle Karten in der Hand«

US-Politologe Stephen Cohen über den Kalten Krieg um die Ukraine

  • Lesedauer: 4 Min.
Stephen Cohen ist emeritierter 
Professor für Russland-Studien und Politik an der New York University und der Princeton University. Sein jüngstes Buch heißt »Soviet Fates and Lost Alternatives: From Stalinism to the New Cold War« (Sowjetische Schicksale und verlorene Alternativen: Vom Stalinismus bis zum Neuen Kalten Krieg). 
Für »nd« befragte ihn Max Böhnel.

Bestätigt sich Ihre seit Langem gehegte Befürchtung vor einem neuen Kalten Krieg jetzt in der Ukraine?
Der Westen, das heißt die USA und die EU, haben ein weiteres Kapitel beim Marsch auf die postsowjetische Welt aufgeschlagen. Es begann mit der Osterweiterung der NATO Anfang der 90er Jahre unter Clinton, setzte sich fort mit politisch agierenden NGO in Russland, die von den USA unterstützt wurden, einem US-NATO-Stützpunkt in Georgien und Anti-Raketen-Systemen an der Grenze zu Russland. Der Marsch geht seit mehr als zwei Jahrzehnten so - politisch, militärisch und wirtschaftlich.

Die Ukraine, ein tief gespaltenes Land, ist dabei die bisher größte Beute. Die Kluft des neuen Kalten Krieges hat sich von Berlin nach Osten mitten ins Herz der slawischen Zivilisation hinein verschoben. Die Ukraine ist aus westlicher Sicht dabei gewissermaßen das Filetstück, das man sich greifen will.

Welche Optionen haben die USA?
Überhaupt keine, außer wir führen gegen Russland Krieg. Denn Putin hält alle Karten in seiner Hand, ob man das nun gut oder schlecht findet. Militärisch sowieso - denn es ist sein Territorium. Politisch, weil ein großer Teil der Ukraine Putin unterstützt und nicht den Westen. Ökonomisch, weil die Ukraine Teil der russischen Wirtschaft ist. Und rechtlich - das müsste man Anwälte fragen. Ist die Regierung in Kiew, die vor zwei Wochen die Verfassungsordnung über den Haufen warf und den gewählten Präsidenten davonjagte, legitim? Putin sagt »njet«. Und wir? Wir haben diese Regierung noch nicht formal anerkannt. Aber wir handeln so, als sei sie legitim.

Ist sie es?
Die höchstrangige Ostpolitikerin Obamas Victoria Nuland und der US-Botschafter in Kiew Geoffrey Pyatt haben bis ins Detail einen Staatsstreich in der Ukraine diskutiert. »Entbindung« nannte Nuland das: die Zusammensetzung einer neuen, antirussischen ukrainischen Regierung nach der Neutralisierung und Entmachtung des demokratisch gewählten Präsidenten. Das ist eindeutig dokumentiert. In den westlichen Medien wurde das geleakte Gespräch zwischen den beiden nur wegen ihres obszönen »Fuck the EU« skandalisiert.

Was war damit gemeint?
»Fuck Merkel« hieß das wohl. Dem US-Außenministerium passt das zunehmende wirtschaftliche Gewicht Deutschlands nicht. Es hält Berlins Herangehensweise an Moskau vermutlich für zu »soft«. Außerdem: als Bush Junior die Ukraine damals in die NATO einbeziehen wollte, sperrte sich Merkel dagegen. So etwas vergisst Washington nicht.

Zurück zu Russland: Geht es in der Ukraine denselben Weg wie 2008 in Georgien?
In dem Sinne, dass es sich damals wie heute für Moskau um einen nicht zu überschreitenden Stolperdraht handelt, ja. Aber die Unterschiede sind für die Beurteilung entscheidend, und das verschärft die Kriegsgefahr. Die Ukraine ist wegen ihrer Größe und ihrer Lage für Russland viel wichtiger als Georgien. Zweitens hatten damals von den USA unterstützte Kräfte russische Enklaven in Georgien angegriffen. Es gab zwar in der Ukraine Gewalt, aber sie war bisher einigermaßen begrenzt. Bisher ist es zum Glück zwischen Armeen zu keinem Schuss gekommen - was bedeutet, dass es noch Auswege zu diplomatischen Lösungen geben könnte. Wenn die russische Armee allerdings über die Krim hinaus in die östliche und südliche Ukraine einmarschiert, dann wird sich die NATO gezwungen sehen, ihrerseits in die westliche Ukraine einzumarschieren. Und dann ist die Hölle los. Die Ukrainer, die Kiew und den Westen unterstützen, werden dann einen Partisanenkrieg beginnen. Uralte, längst verblichene Feindbilder würden aufgewärmt werden. Es käme zu einem jahrelangen Bürgerkrieg mit verheerenden Konsequenzen über die Ukraine hinaus.

Was sind für Moskau »rote Linien«?
In den USA heißt es, Putin sei ein Neo-Imperialist, ein Sowjetführer, der die alte UdSSR wiederaufrichten wolle. In Wirklichkeit hatte er aber, als er vor 14 Jahren an die Macht kam, einen kollabierten Staat vor sich. Der Staat war aus herrschender russischer Sicht im 20. Jahrhundert schon zweimal zusammengebrochen, das erste Mal 1917, das zweite Mal 1991. Putin und die russischen politischen Eliten sehen ihre Aufgabe darin, außenpolitische Stabilität und im Inneren Größe wiederherzustellen. Dies schließt die traditionellen, sicheren Pufferzonen mit ein, in erster Linie die Ukraine. Wenn Putin heute seine Truppen mobilisiert, ist dies ein Signal an Europa und USA: Ihr habt eine rote Markierung überschritten, und ich habe keine Wahl. Tatsächlich hatte er wohl keine andere Wahl, wenn man sich die innenpolitischen Verhältnisse in Russland sowie die prorussischen Kräfte und Gefühle in der östlichen und südlichen Ukraine anschaut.

Wie kann ein Krieg verhindert werden?
Ob die Situation noch weiter eskaliert, liegt letztendlich am Westen. Eine entsprechend kluge Politik würde Putin alle Sicherheitsgarantien geben, die er braucht, um sich von der Krim wieder zurückziehen zu können. Das Problem ist aber, dass die USA eine andere Sichtweise haben - und die lautet: Er muss sich zuerst zurückziehen.

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