Tonangebend

Am Samstag jährt sich der Geburtstag des Komponisten Carl Philipp Emanuel Bach zum 300. Mal. In Berlin trägt ein Musikgymnasium seinen Namen

  • Marika Bent
  • Lesedauer: 7 Min.
Die frühere »Spezialschule für Musik « war zu DDR-Zeiten eine angesehene Ausbildungsstätte für künftige Berufsmusiker. Das ist sie geblieben. Ein Besuch.

Die Geigen, Celli und Klarinetten haben Pause. Auf den Schulbänken im Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Gymnasium stehen Instrumente, die im mitteleuropäischen Klangkörper eigentlich nicht heimisch sind: Congas, Bongos und dazwischen ein schnöder Plastikeimer - musikalisch gesehen ein Unberührbarer, der hier im Musikunterricht einer 13. Klasse die Wiedergeburt als Instrument erleben darf. Die Abiturienten trommeln schwarzafrikanische Rhythmen. Die Ausgelassenheit, mit der sie auf Anhieb einen ghanaischen Gigbo anschlagen, ist verblüffend. Kein schüchterner Anlauf, kein Fremdeln. So exotisch der afrikanische Tanz anmutet, für diese Schüler gehört auch er zu einem Reich, das sie seit frühester Kindheit bewohnen: das der Musik.

Dass die Schüler in ihm auch beruflich Wurzeln schlagen können, ist seit mehr als 60 Jahren die Aufgabe Bach-Musik-Gymnasiums. Anfangs beherbergten die Gründerzeitbauten an der Rheinsberger Straße in Mitte eine »Fachgrundschule für Musik«. 1965 wurde sie zur »Spezialschule für Musik« umgewandelt und war bis zur Wende Teil der Musikhochschule »Hanns Eisler«. Hochschuldozenten und allgemeinbildende Lehrer bereiteten gemeinsam Schüler auf ein Leben als Berufsmusiker vor. Diesem Konzept ist die Schule bis heute treu geblieben, teilweise unter großen Schwierigkeiten. Denn die Förderung außergewöhnlicher Talente ist auch finanziell ein Kraftakt, der besonderer Legitimation bedarf. Als Gymnasium »mit besonderer pädagogischer Prägung« untersteht die Schule seit 1991 nicht mehr der Hochschule, sondern direkt dem Senat. Seit dieser Zeit trägt sie auch den Namen des berühmten »Berliner Bachs«, Carl Philipp Emanuel.

Die damalige Elternvertretung und Schulleitung haben den Beinamen vergeben, erinnert sich Michael Katerbau, einst selbst Schüler und heute Dozent für Klavier. Viel Aufhebens wurde um den Namen des Frühklassikers, dessen 300. Geburtstag sich am kommenden Sonnabend jährt, damals scheinbar nicht gemacht. Der Erhalt der Schule selbst war seinerzeit viel wichtiger. Sucht man nach möglichen Berührungspunkten zwischen dem Bach-Spross und der heutigen Schülerschaft des Gymnasiums, so bleibt am Ende vielleicht eine simple Frage: Wie bringt man es als Musiker - hochbegabt, empfindsam und nicht frei von Druck - zu einem erfüllten Leben mit der Musik?

Für die Abiturienten, die in wenigen Wochen das behütete Nest verlassen werden, ist der Weg auf Sichtweite klar und deutlich: »Musikstudium«, kommt es wie aus der Pistole geschossen von allen Befragten. Und zwar sofort. Wo andere Schulabgänger erst einmal das Weite suchen, wollen sie den Anschluss. »Das geht auch nicht anders, wenn man ein Instrumentalstudium anstrebt. Sonst verliert man die Übung«, erklärt der stellvertretende Schulleiter Gero Krüger. 90 Prozent der Absolventen eines Jahrganges studieren anschließend Musik. Für ein Kind, das nur Musik will, sei das hier genau der richtige Ort. Sie steht über allem. Selbst die Schulklingel muss vor ihr verstummen: Statt eines Gongs signalisieren am Bach-Gymnasium bunte Lampen, dass es Zeit für die Pause ist.

Anne Fliegel ist zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Das hochgewachsene Mädchen besucht die 11. Klasse. Sie ist eine von insgesamt 138 Schülerinnen und Schülern, die derzeit auf die Schule gehen. Anne kam in der 8. Klasse hierher. Vorher war sie, die mit sechs Jahren das Flötenspiel begann, auf einer Kreuzberger Waldorfschule. Du mit deiner Musik! - das war ein Spruch, den Anne dort öfter zu hören bekam. Wenn sie vom Wettbewerb »Jugend musiziert« erzählte, interessierte es keinen. »Das war eben nicht cool«, sagt Anne. Am Bach-Gymnasium ist die Teilnahme an dem Nachwuchswettstreit eine Selbstverständlichkeit. Wenn man hier darüber spricht, dann über die Punktezahlen und Plätze. Anne versucht, Konkurrenzdruck nicht zu sehr an sich herankommen zu lassen. Ihr Instrument hilft ihr dabei ein bisschen. Wegen ihrer Größe von 1,83 Metern hat sie von der Flöte zum Fagott gewechselt. Mit Anne sind es vier Fagottisten an der Schule. Die Konkurrenz ist überschaubar. Geigen gibt es viel mehr. Annes Mutter ist Bratschistin. Auch das ist am Bach-Gymnasium eine Normalität, ja Tradition. Viele Kinder kommen aus Musiker-Familien. Mit ihrer Mutter versteht sie sich gut. »Sie ist stolz auf mich und macht mir nicht zu viel Druck.«

Dass es Druck braucht, wird niemand an der Schule bestreiten. Doch an der Dosierung scheiden sich die Geister. Die Trennlinie verläuft nicht selten zwischen Elternhaus und Schule. Wer hat die Hoheit über ein begabtes Kind? Schulleiter Winfried Szameitat sagt, dass seine Aufgabe hauptsächlich darin besteht, Gespräche zu führen. »Stellen Sie sich doch mal vor, die Eltern eines hochbegabten Kindes kommen aus Russland; der Vater ist dageblieben, um Geld zu verdienen, und die Mutter ist mit dem Kind extra nach Berlin gezogen, damit es auf unsere Schule gehen kann. Natürlich ist dann Druck vorhanden.« Szameitat begegnet ihm auf weiche Art. »Hier braucht es Menschen, die demjenigen, der morgens früh um sieben schon zum Üben herkommt, mit Empathie begegnen.«

Das Mitgefühl sollte auch dann nicht verfliegen, wenn der Frühaufsteher nachmittags schlechte Laune hat, weil ihn die Pubertät plagt und er entdeckt hat, dass die Hoheit über seine Begabung eigentlich ihm gehört. Die Schüler der 9. Klasse sind mittendrin. Im Hormonkampf und den Proben zu einem Programm über Carl Philipp Emanuel Bach. Die Mädchen kichern und werfen die langen Haare in den Nacken. Die Jungs spreizen sich und blaffen einander an. Harmonie sieht anders aus. Eine junge Sängerin hebt zu einem Bach-Lied an, dann bricht sie lässig ab. Sie habe eben nicht geübt. Ein paar Takte Engel, dann Zicke. Mittendrin versucht Birgit von Streit, Herrin der Lage zu bleiben. Die Lehrerin hat Musik am Französisch-Gymnasium unterrichtet und einige Jahre Französisch an der deutschen Schule in Shanghai. An diesem Morgen hat sie schon gut gelaunt mit den Abiturienten die Congas und Bongos geschlagen. Doch jetzt gönnt man ihr gern eine Pause und einen Kaffee. Die Jugendlichen zerren an den Nerven. Normaler Schulalltag.

Die Pubertät bildet auch hier die Zäsur. In der 9. Und 10. Klasse ist die Fluktuation an der Schule am stärksten. Die Kinder entdecken sich selbst und ein Leben außerhalb der Musik. Ganz unmittelbar bekommen dies vor allem die Instrumentallehrer zu spüren. Menschen wie Johannes Kittel, der selbst vor 50 Jahren die Schule besucht hat und nun als Professor für Violine jede Woche im Einzelunterricht Schüler betreut. »Was wir tun, geht über den Instrumentalunterricht hinaus. Wir erleben natürlich auch die Krisen. Da ist es gut, dass wir an der Schule einen langen Atem haben können.« , sagt Kittel. Wenn die Schüler den Einzelunterricht beginnen, sind sie neun oder zehn Jahre alt. Die Schule nimmt ab der 5. Klasse auf. Es sind noch Kinder, die dann schon zu kleinen Hochschulbesuchern werden, denn mit der Aufnahme an der Schule erwirbt man zugleich eine Gasthörerschaft an den beiden Berliner Musikhochschulen. Orchester- und Chorstunden, Tonsatz, Gehörbildung, Klavierunterricht, all diese Fächer sind Pflicht und Privileg an der Schule.

Und dennoch schützt umfassende Betreuung nicht vor dem Absturz. Die Fallhöhe ist hoch. Einer der sie durchmessen hat, ist Georg Schwärsky. Er war in den 80iger Jahren an der Schule, hat dort seine heutige Frau kennengelernt. Unter der Schulbank hat er ihr Westschokolade zugeschoben und sie ihm die Hausarbeiten. Als die Pubertät kam, ließ er sich die Haare lang wachsen und den Kontrabass in der Ecke stehen. »Ich bin von der Schule geflogen«, erzählt er. Dass er doch noch die Kurve kriegte, lag an einer Kontrabass-Lehrerin, die ihn bei seinem Talent und Ehrgeiz packte. Schwärsky studierte schließlich an der »Hanns Eisler« und spielt seit 20 Jahren im Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Seine Frau ist Klarinettistin. Die zwei Töchter besuchen ebenfalls das Bach-Gymnasium. Jona, die Älteste, spielt Geige und reist mit einem Orchester schon durch die Welt. Die Kinder haben die Musik mit der Muttermilch aufgesogen. Wenn die Schule nachmittags endet, gehen die Mädchen nach Hause und üben drei Stunden auf ihren Instrumenten. »Das ist wie Zähneputzen«, sagt der Vater. Glück? Jona überlegt ein bisschen. »Kammermusik macht mich glücklich. Wenn ich mit anderen zusammenspielen kann. Als Solist ist man so allein.«

Musikalische Überflieger sind sie alle. Gelegentlich aber findet sich ein Kind, das noch höher fliegt und über das selbst an diesem Ort Lehrer und Schüler staunen. Im Moment gibt es so eine Höchstbegabung. Sie kommt aus Asien und spielt Geige. Das Wort Wunderkind will niemand benutzen. Es wäre ein Wort, das von draußen kommt, von den Fernsehshows, vom Medien-Rummel. Davor soll sie beschützt werden. Und doch spricht man über sie. Auch Gero Krüger, der stellvertretende Schulleiter, will das Talent preisen, kommt aber nicht weit. »Wissen Sie, ich habe sie spielen gehört ...«, er schließt die Augen, ihm kommen die Tränen. Vor Glück.

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