Auch Retortenbabys sind Kinder der Liebe

Fertilitätsmedizin belastet Paare - Kinderlosigkeit aber noch mehr. Die Lewitscharoff-Debatte aus Sicht des Paartherapeuten

  • Wolfgang Schmidbauer
  • Lesedauer: 6 Min.

Wer mit den seelischen Nöten der Menschen des 21. Jahrhunderts zu tun hat, kann glatt zum Nostalgiker werden, obwohl er sich damit selbst das berufliche Grab schaufelt. Es hat doch eine ganz andere Qualität, ein schweres Schicksal einfach zu ertragen oder aber - wie das heute so typisch ist - über dessen Lasten hinaus auch noch mit Zweifeln zu ringen, ob ich mir mein Scheitern durch falsche Entscheidungen selbst angetan habe.

Kinderlose Paare konnten vor hundert Jahren wallfahren, beten oder eine angeblich unfruchtbare Frau zu einer manchmal wundersamen Wiederherstellung ihrer Fruchtbarkeit in eine Badekur schicken. Aber niemand schlug ihnen vor, über das abgestufte Programm der heutigen Fertilitätsmedizin zu diskutieren und sich zu einigen, wie weit sie gehen, wie oft sie einzelne Schritte bei Misserfolg wiederholen wollten. Kein Gedanke, sich um des einen Zieles willen - des gemeinsamen Kindes - Prozeduren auszusetzen, die dem zweiten, nicht weniger kostbaren Ziel - dem Erhalt der romantischen Liebe - derart krass widersprechen.

Die viel geschmähten Äußerungen von Sibylle Lewitscharoff sind insofern lehrreich, als sie das poetische Prinzip der Erotik gegen die gewiss ältere und radikalere Macht der Fruchtbarkeit verteidigen wollen. Der harte Ton, den die Autorin in ihrer Dresdner Rede angeschlagen hat, spricht für die Macht der Affekte, die hier eine Rolle spielen. Von Anfang bis zum Ende sieht sie abartige Wege, angefangen bei der Vorstellung, Samen durch Masturbation zu gewinnen, bis zu den »Halbwesen« , die so entstehen.

Dieser Zorn wirkt nicht nur alttestamentarisch. Lewitscharoff zitierte tatsächlich das »drastische biblische Onanieverbot« (das freilich nicht so in der Bibel steht; Onans Verbrechen war eher etwas wie ein Coitus interruptus). Sie findet das biblische Tabu »geradezu ... weise« angesichts der ihr grotesk und widerwärtig erscheinenden Vorstellung, dass ein Mann in eine Kabine geschickt werde, um unter Umständen mit Hilfe von Pornografie an einer Zeugung beteiligt zu werden. Angesichts solcher Entwicklungen kämen ihr die Lebensborn-Heime der Nationalsozialisten harmlos vor.

Das ist sehr distanz- und humorlos gesagt. Der Sexualtherapeut wird gleich einwenden, wie wichtig ein entspannter Umgang mit Selbstbefriedigung für das Liebesleben gerade jener Paare ist, die sonst blitzschnell vom gemeinsamen Höhepunkt in die komplette Sexualvermeidung stürzen. Es geht auch weit vorbei an dem Leid und dem Glück von Paaren, die auf diesem Weg Kinder bekommen.

Freilich scheint es mir nicht weniger distanz- und humorlos, nun Lewitscharoff zu entwerten und zum Boykott ihrer Bücher aufzurufen. Ein Kind zu bekommen, ist ein existenzieller Wert so gut wie eine von Respekt und Würde bestimmte Erotik. Wer behauptet, beide Werte ließen sich in der Fertilitätsmedizin problemlos verknüpfen, begegnet dem Problem wohl nicht weniger naiv als Lewitscharoff. Der praktizierende Psychotherapeut kennt die seelischen Belastungen durch ungewollte Kinderlosigkeit so gut wie die Gefahren für das Liebesleben, wenn Schwangerschaften durch ärztliche Hilfe erzwungen werden sollen. Es werden Themen ans Licht gezerrt, die unter glücklicheren Umständen unter einem Schleier von Scham und Unwissenheit verborgen bleiben dürfen.

Oft geraten Paare bereits in eine Krise, wenn die Frau nach zwei Jahren unfruchtbaren Liebeslebens einen Gynäkologen aufsucht und dieser bei ihr nichts findet, was einer Schwangerschaft im Wege stehen könnte. Jetzt soll der Mann zum Urologen und beweisen, dass seine Spermien zahlreich und aktiv genug sind! Würdevoll ist die dazu nötige Prozedur so wenig wie ihr Ergebnis leicht zu verkraften, wenn es nicht positiv ausfällt.

Jetzt wird dem Mann geraten, erst einmal den Alkohol, die Zigaretten und vor allem den Stress wegzulassen, wie schon vorher die Frau belehrt wurde, dass ein heftiger Kinderwunsch doch eher das Gegenteil bewirkt, garniert mit einer der zahllosen Geschichten von der Schwangerschaft, die nach langem, vergeblichem Erwarten gerade dann eintritt, wenn die Frau aufgegeben hat und die Adoptionspapiere unterzeichnet.

Belastbare und humorfähige Paare ertragen solche Zumutungen - mit Mühe. Andere scheitern an ihnen. Sie beginnen, nach dem Schuldigen zu suchen, der den existenziellen Wunsch nach einem Kind vereitelt. Sie können sich entweder gar nicht oder erst nach zermürbenden Kämpfen darauf einigen, wie weit sie gehen wollen. Das beginnt bereits mit dem Sex am richtigen Punkt der Eisprungkurve, für das eine Paar eine witzige Ablenkung vom Alltagstrott, für das andere eine mehr und mehr zum Zwang werdende Veranstaltung, in der Lust und Liebe auf der Strecke bleiben.

Seelisch noch sehr viel belastender sind die Zeugungen im Reagenzglas. Die Partnerin wird mit Hormonen behandelt, ihre Eierstöcke sollen produzieren, soviel sie können, »fast bis zum Platzen«, hörte ich von einer Betroffenen. Dann werden die reifen Eier entnommen. Damit ist das Material für die künstliche Befruchtung gewonnen, die im Reagenzglas mit dem gleichzeitig gewonnenen männlichen Samen vorgenommen wird. So entstehen bis zu zwanzig Embryonen. Die meisten werden in der Regel tiefgefroren und so konserviert.

Ei- wie Samenzellen lassen sich auch einzeln konservieren. In die Praxis kommen Frauen wegen einer Karriere-Krise. Für feste Beziehungen haben sie keinen Platz in ihrem Leben, aber wie nebenbei berichten sie, dass sie ihre Eizellen haben einfrieren lassen, um das Ticken der biologischen Uhr nicht mehr zu hören.

Um sicher zu gehen, dass eine befruchtete Zelle sich einnistet und ein Kind entsteht, werden meist mehrere der in vitro befruchteten Embryonen eingepflanzt. Erstgebärende nehmen Zwillinge manchmal gerne in Kauf; in anderen Fällen müssen die Paare wieder die Angst vor der falschen Entscheidung bewältigen: Wird es ein Kind zu viel, das die Kräfte überfordert? Oder scheitert der Versuch?

Es ist unmöglich, die seelischen Kosten dieser Prozeduren zu messen, aber sie sind auf jeden Fall erheblich. Kritische Akademiker-Eltern prüfen verschiedene Zentren, welche diese (von den Kassen meist nicht übernommene) medizinische Dienstleistung anbieten und wählen dann den Arzt, bei dem sie sich aufgehoben fühlen. Es scheint in der Tat gravierende Unterschiede zu geben: Einfühlende Ärztinnen und Ärzte, die versuchen, im Labor möglichst viel menschliche Würde zu erhalten, aber auch Kälte und technische Selbstlegitimation, welche die Betroffenen mit ihren aufgewühlten Gefühlen alleine lässt.

Und doch - wenn ich die Eindrücke aus vielen Begegnungen mit Müttern, Vätern und Paaren in den Familien zusammenfasse, die durch ein »Kunstkind« erst zu Familien wurden: Am Ende sind die Unterschiede zu den auf natürlichem Weg gewachsenen Familien nicht nur minimal, sondern die »Kunstfamilien« haben den »Naturfamilien« auch manches voraus.

Wie jeder Familientherapeut weiß, setzt auch das ganz und gar in romantischer Nähe entstandene Baby die Erotik der Eltern heftigen Belastungen aus. Diese treffen gerade das seiner Harmonie bisher sichere Paar mit besonderer Wucht. Da haben Partner, die schon vorher zusammen das Misslingen naiver Lebens- und Liebesvorstellungen verarbeitet haben, nach meinem Eindruck oft bessere Chancen. Sie haben Toleranz und Humor eingeübt, sie können akzeptieren, dass manchmal krumme Wege gegangen werden müssen und es wichtiger ist, sich auf ihnen zu unterstützen als sich wechselseitig das Scheitern von Glückserwartungen vorzuwerfen.

Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Autor, Lehranalytiker und Paartherapeut in München. Sein Buch über »Partnerschaft und Babykrise« erschien 2012 im Gütersloher Verlag.

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