Geschichte einer Nonne

Im Kino: »Ida« von Pawel Pawlikowski

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Dies ist die Beschreibung einer Reise. Aber nicht in die Welt, oder doch, aber nur kurz, um sie dann wieder zu verlassen. Eine Reise zum Ich - als Reise ins Kloster? Das klingt erst einmal angestrengt nach Weltflucht. Und wer erinnert sich nicht an »Die Nonne« von Diderot, diese Chronik der Rebellion einer jungen Frau, die von ihrer Familie ins Kloster abgeschoben wurde?

Aber dies ist eine andere Geschichte. Sie spielt 1962 in Polen, und da liegt es nahe, den Konflikt zwischen Kommunismus und Katholizismus auf die Spitze zu treiben. Regisseur Pawel Pawlikowski, in Polen geboren, lebt in England und hat mit Filmen wie »My Summer of Love« bereits auf sich aufmerksam gemacht. Der kühle Stil des britischen Independentfilms, in dem auch dieser wortkarge Schwarz-Weiß-Film gedreht wurde, dokumentiert zuerst einmal eines: Distanz zu aller schnellen Parteinahme. Um eine solche, so merkt man bald, geht es in »Ida« nicht.

Filmisch, um es gleich zu sagen, ist »Ida« ein Ereignis. Auf eine ebenso stille wie eindringliche Weise erzählt Pawlikowski vom langsamen Wachsen einer Entscheidung. Es sind die Bilder, die auch dann noch sprechen, wenn die Stimmen längst verstummt sind. Die achtzehnjährige Novizin Anna lebt seit ihrer Kindheit im Kloster, wurde von den Nonnen aufgezogen. Das Kloster ist ihr Zuhause, die anderen Nonnen sind ihre Schwestern, hier will sie bleiben, da hat sie gar keinen Zweifel. Doch kurz vor dem lebenslang bindenden Gelübde bestellt die Oberin sie zu sich und teilt ihr mit, bevor sie dieses ablege, solle sie ihre einzige noch lebende Verwandte, ihre Tante Wanda, besuchen. Ein seltsamer Auftrag, so findet Anna und macht sich auf, in eine ihr bislang unbekannte Welt.

Der meditative Gang der Bilder (und was für welcher, jedes einzelne könnte man rahmen!) wird durch das kontrastiert, was sich Anna nun als bislang verbogene Geschichte ihrer Herkunft offenbart. Von Wanda (Agata Kulesza), der Schwester ihrer Mutter, erfährt sie es. Sie heißt eigentlich Ida Lebenstein und ist Jüdin. Die Familie wurde während der deutschen Besatzung ermordet. Wanda ist, oder genauer: war Richterin, die »rote Wanda«, die von sich sagt, sie habe in den 50er Jahren ohne Gnade unzählige Todesurteile verhängt. Eine harte Frau, Kommunistin und natürlich Atheistin, die sich vom Leben nimmt, was sie braucht: Geld, Männer und Schnaps - und von dem letzteren braucht sie Unmassen.

Diese Hilde Benjamin Polens passt offenbar nicht mehr ins neue Polen, wurde als Hardlinerin abgeschoben. Nun schaut sie sich ihre ahnungslose Nichte an, die nichts weiß vom Leben und dann auch noch als letzte Überlebende ihrer jüdischen Familie Nonne werden will! Und sie nimmt sie mit sich, fährt mit dem Wagen in selbstmörderischem Tempo über die Dörfer, ab und zu landen sie im Straßengraben - aber Wanda weiß genau, was sie Anna zeigen will. Und ob sie dann noch ihr Leben in einem polnischen katholischen Kloster zubringen will?

Aber Anna, dieses stille, in sich gekehrte Mädchen, beobachtet zurück, saugt das irrsinnige Leben der Kneipen unterwegs, die rohen Sprüche der Tante und die ständig wechselnden Männer um sie herum wie ein ausgetrockneter Schwamm auf. Die konzentrierte Stille, mit der sie sich dieses hektische Alltagsleben anschaut, signalisiert: Sie gehört nicht dazu. Doch ist sie nicht jung, gibt es nichts, was sie von ihrer asketischen Form der Sinnsuche abbringen kann?

Die Tante und sie erreichen das Ziel: ein Dorf, mit dem Haus, in dem Annas Familie gelebt hat. Was wohnen jetzt für Menschen dort? Sie erscheinen erschreckt vom Auftauchen der beiden Frauen, zumal einer Nonne. Und dann beichten sie gleichsam das Geschehene, aber eher wie beiläufig, wie etwas, das nun endlich als Schuld beglichen werden muss. Die anderen Familienmitglieder Annas, die Eltern, die Geschwister, wurden vor den polnischen Dorfbewohnern erschlagen und im Wald vergraben. Wanda will es genau wissen, lässt sich und ihre Nichte an die Stelle im Wald führen, wo die Ermordeten liegen. Die Dörfler müssen graben, denn Anna soll die Knochen mit sich nehmen.

Eine schreckliche Geschichte, die Pawlikowski auf eine schlichte Weise, fast im Protokollstil erzählt. Und Anna schaut zu, sie blickt auf die Menschen, ganz normale Menschen im Dorf, die das getan haben. Nur sie selbst wurde verschont, man gab das kleine Mädchen zu den Nonnen - der Bruder aber, der sich gewehrt hatte, liegt im Waldboden verscharrt. Kann man das ertragen und immer noch an einen Gott glauben? Agata Trzebuchowska gibt Anna ein Gesicht, mit dunklen Augen, deren Blick sich einbrennt. Das Gegenteil von fanatisch, doch groß vor Sehnsucht, die von einer starken Kraft gebändigt scheint. Ist das der Ausdruck wahren Glaubens?

Anna senkt nicht den Blick, sie schaut. Und sie weiß, dass sie von den zerstörerischen Kräften, den Trieben der Menschen, bislang wenig weiß. Sie geht nun auf eine Expedition, mehr über das zu erfahren, was die meisten Menschen in ihrem Leben antreibt. Ein Musiker in einer Kneipe gefällt ihr, sie schläft mit ihm. »Und was wird nun mit uns?«, fragt sie ihn am nächsten Morgen. - »Wir heiraten, kriegen Kinder, bauen ein Haus, ganz normal eben«, antwortet der Mann, die Frage nicht recht verstehend. Anna schaut nachdenklich aus ihren dunklen Augen und sagt nichts.

Wanda hat die Expedition mit Anna in die Vergangenheit nicht ertragen, sie nimmt sich, zurück in ihrer Wohnung, das Leben. Anna aber studiert alles um sich herum, die zufällige und sinnlose Art des Todes überall, wie unter einem Mikroskop. In dieser Distanz wächst auch die Kraft zum eigenen Weg. Was sie in der Welt als Nonne zurücklässt, hat sie nun erfahren. Es ist nichts, was für sie Gewicht hat. Sie geht ihren Weg, und weil es ihr Weg ist und die Kamera auf hinreißend zurückhaltende Weise die poetischen Bilder vom Wegrand dazu findet, bleiben wir Zuschauer bezaubert und erschüttert zurück - was im heutigen Kinobetrieb nicht häufig der Fall ist.

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