Per Heimvideo zur Hauptrolle
eCasting: Immer mehr TV-Produktionen suchen Schauspieler ohne das klassische Vorsprechen aus
Als familiärer Freizeitspaß ist Mühle Geschichte. Außerhalb von Altersheimen hat das uralte Gesellschaftsspiel seine zerstreuende Bedeutung längst eingebüßt. Kein Wunder, dass es auch im Film keine Rolle spielt. Dann aber setzt sich der Schauspieler Ken Duken vors berühmte Brett, das hier ein bemalter Leinenlappen ist, und bezichtigt seinen Gegner, zu schummeln. Dann pfeffert der Beschuldigte, verkörpert von Jan Henrik Stahlberg, die Spielsteine vom Tisch, und dampft wutentbrannt ab. Dann könnte man zwar meinen, die Szene sei nur ein belangloses Stück aus »Die Männer der Emden«, das dem ARD-Melodram am Karfreitag ein Gefühl von Enge, Angst und Spannung verleihen sollen.
Doch die kleine Sequenz der realen Geschichte über 50 Matrosen, die im 1. Weltkrieg als Schiffbrüchige um die halbe Welt Richtung Heimat flüchteten, ist mehr als das: sie steht für eine Revolution. Ausgerechnet der beiläufige Streit am Brettspiel war nämlich Gegenstand eines Auswahlverfahrens, das die Film- und Fernsehbranche nachhaltig verändern wird. Es nennt sich eCasting und umschreibt das Prinzip, vom Schauspieler ein Video bestimmter Szenen anzufordern, statt ihn gleich zum Vorsprechen einzuladen.
So griffen 2010 auch rund 500 Darsteller in spe zur Digicam und filmten sich beim Dame-Spiel. Heraus kam ein buntes Panoptikum der Interpretation: mal allein, mal zu zweit, im Wohnzimmer oder Freien, ruhig oder aufbrausend, von Stars, vor allem aber Sternchen, die oft nicht mal Agenten haben. Besonders für sie, sagt Clemens Erbach, sei eCastings die Chance des Berufslebens. Seit Beginn des Videozeitalters gäbe es hierzulande keine »Kultur lebendiger Besetzung« mehr, erzählt der Vermittler, dessen Berliner Firma outcast Teile der Emden-Crew sortiert hat. Während das Ausland Akteure stets zum Probedreh lädt, entscheiden deutsche Produzenten immer häufiger »nach Aktenlage«, also den Agenturseiten, die das Beste aus dem Schaffen ihrer Klienten in glänzenden Trailern zusammenfassen.
Nur: Für derlei Showreels braucht man Filme, für Filme Showreels, der Hauptmann von Köpenick lässt grüßen. Da intensives Casting bei sinkenden Etats zu teuer ist, werden nämlich gern die üblichen Verdächtigen von billig bis prominent besetzt. Neulinge fallen hierdurch ebenso durch den Rost wie passgenaue Güte. Deshalb importierte Erbach die Idee des eCastings. Für den ARD-Film »Takiye« bat er die Agenturen 2009 um Videos ihrer Klienten zum Hochladen auf seine Datenbank filmmakers.de. »Wenn der Schauspieler nicht zum Casting kommt«, sagt Erbach über die große Resonanz, »muss das Casting zum Schauspieler kommen«.
Seither boomt das Prinzip von Film bis Serien, ja selbst im »Tatort«. Und Konkurrenz wie »Castforward« zeigt: das Konzept macht Schule. Sogar in den USA, wo er der SciFi-Serie »Defying Gravity« eine deutsche Nebendarstellerin vermittelt hat. Cornelia von Braun vom Bundesverband Casting lobt ein »Medium der Zukunft« mit Mehrwert für alle: Produktion, Stars, Newcomer oder auch Jugendliche, deren Optik sich innerhalb von Wochen wandelt. Gut, eine Veronica Ferres castet sich von allein für die kämpferische Mutter. Doch selbst bei Hauptfiguren, schrieb Stefan Raiser im Branchenblatt »BlickpunktFilm«, müsse man »mal den ›Bunte‹-Faktor ausklammern können«. Seine Produktionsfirma Dreamtool tat genau dies und ließ sich die Titelfiguren des RTL-Films »Nina Undercover« vor drei Jahren elektronisch auswählen.
»Selbst wenn man nur die 50 Besten zum persönlichen Casting einlädt«, sagt Ufa-Casterin Nina Haun, koste das viel Zeit, »von Studiomiete und Kameramann ganz zu schweigen«. Weil Caster wie Regisseure bis dahin zudem kaum Einfluss aufs Ergebnis haben, mag eCasting eine sinnvolle Vorstufe der klassischen Darstellerwahl sein - zum Ersatz wird es jedoch kaum werden.
Die Branche ist trotzdem zuversichtlich, dass das Verfahren für rund 14 000 hiesige Schauspieler, zu denen jährlich Hunderte Hochschulabsolventen und Quereinsteiger stoßen, seriöser wird. Und effizienter. Noch heute kann man das Bewerbungsvideo eines gewissen Hugh Laurie bei youtube sehen. Danach hatte er die Rolle seines Lebens: Dr. House.
»Die Männer der Emden«, ARD, 18. April, 20.15 Uhr.
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