Zittert, die Hexen sind zurück!

Zur Walpurgisnacht feiern moderne Wicca die Vereinigung von Gott und Göttin

  • Lesedauer: 4 Min.
Dr. Victoria Hegner ist Ethnologin und forscht an der Universität Göttingen zu neuen religiösen Bewegungen, vorwiegend zur »neuheidnischen Hexenreligion im urbanen Kontext«. Und sie sagt: Ja, es gibt sie auch heute noch, die Hexe - und sie hat die Frauenrechtsbewegung der 1970er Jahre befeuert. Aber Hexen müssen nicht unbedingt weiblich sein. Mit Victoria Hegner sprach Jenny Becker.

nd: Sie forschen über moderne Hexen und haben selbst schon deren Rituale besucht. Es gibt sie also wirklich. Was macht eine Hexe aus?
Hegner: Hexen leben eine Form der Naturreligion. Sie glauben an das Göttliche in allen Dingen und sehen die Erde als einen Organismus, in dem alles verbunden ist. Es gilt zumeist die Dualität von männlichem und weiblichem Prinzip. Manche Hexen huldigen nur der großen Göttin und sind eher feministisch eingestellt. Aber alle feiern in ihren Ritualen den Zyklus der Jahreszeiten. Es gibt acht Jahreskreisfeste, die Walpurgisnacht ist eines davon.

Wer fühlt sich zum Hexentum hingezogen?
Vor allem die urbane Mittelschicht. Denn in der Stadt wird die Einheit von Mensch und Natur schmerzlich vermisst.

Gibt es in Deutschland viele Hexen?
Das ist schwer zu sagen. Die Schätzungen reichen von 2000 bis 100 000. Hexe ist kein geschützter Begriff, theoretisch kann sich jeder so nennen. Es gibt verschiedene Strömungen. Wicca zum Beispiel haben eine feste Form der Organisation und einen geheimgesellschaftlichen Charakter. Da muss man initiiert werden. In Großstädten gibt es mehr »freifliegende« Hexen, die keiner festen Gruppe angehören und ihren Glauben individuell leben. Sie wollen einfach eine Form von Spiritualität pflegen. Das geht oft mit der freien Abwandlung von Ritualen einher.

Das klingt nach einer modernen Patchworkreligion.
In gewisser Weise. Es gibt das Bild, dass die Hexe eine weise Frau mit uraltem Wissen aus vorchristlichen Zeiten ist, die mit Bäumen und Tieren redet. Eine Heilerin. Diese Vorstellung kam Ende des 19. Jahrhunderts in der Zeit der Romantik auf, als man die Verbundenheit mit der Natur herbeisehnte. Es war ein Gegenentwurf zu Kirche und Industrialisierung, eine Projektionsfläche für Stadtmenschen.

Seit wann gibt es die sogenannten neuen Hexen bei uns?
In Deutschland ist das Phänomen stark mit der Frauenbewegung in den 70er Jahren verknüpft. Es gab damals Demonstrationen gegen männliche Gewalt. Unter dem Motto »Wir erobern uns die Nacht zurück« kamen während der Walpurgisnacht viele Frauen zusammen und folgten dem Slogan der ersten Proteste: »Zittert, zittert, die Hexen sind zurück!«

Die Märchenhexe als Vorbild für moderne, starke Frauen?
Ja, es war ein feministischer Akt. Die Hexe galt als selbstbestimmte Frau. In den 80er Jahren gewann im Zuge der Esoterikwelle auch der spirituelle Aspekt an Bedeutung. Man ging davon aus, dass Frauen einen besonderen Zugang zu Intuition haben. Aber hervorgegangen ist das neue Hexentum vor allem aus einer politischen Bewegung.

Müssen Hexen weiblich sein?
Nein, es gibt fast genauso viele Männer. Man sagt dann nicht Hexer oder Zauberer, sondern Hexe. Mann und Frau sind gleichwertig. Zur Walpurgisnacht, Beltane genannt, wird übrigens die Vereinigung von Gott und Göttin gefeiert.

Wie läuft so ein Ritual ab?
Das ist sehr unterschiedlich, weil so verschiedene Gruppen existieren. Aber es gibt Grundelemente. Es wird ein symbolischer Kreis gezogen, um den Ort »zwischen den Welten« zu markieren. Man sagt zur Hexe auch »Hagazussa«, das bedeutet »Zaunreiterin« zwischen dieser Welt und einer anderen Dimension. Dann ruft und begrüßt man nacheinander die vier Elemente.

Können Hexen zaubern?
Magie spielt eine Rolle. Einige sagen, sie ist esoterisch, »von innen kommend«, also selbst gemacht. Wenn man es genau nimmt, ist auch Pizzabacken eine Form von Magie. Etwas, das zunächst reine Vorstellung war, wird materialisiert. Andere gehen von exoterischen Kräften aus, die außerhalb von uns existieren, also Geister und Energien, die man nutzen kann. In jedem Fall gilt Magie als die Fähigkeit zur Transformation. Allerdings kann sie nie den Naturgesetzen widersprechen.

Man braucht keine Angst vor bösem Zauber haben?
Nein. Es gibt einen Ehrenkodex, der aus zwei Grundsätzen besteht. Erstens: Tue was du willst, solange es niemandem schadet. Zweitens: Alles, was du tust, kommt dreifach auf dich zurück.

Heute haben viele Menschen mit Formen von Energieheilung zu tun, wie Reiki. Wächst dadurch das Verständnis für Hexen?
In Großbritannien und Teilen der USA ist der Wicca-Kult eine anerkannte Religion. Doch bei uns ist es gesellschaftlich nicht akzeptiert. Wer sich als Hexe bezeichnet, klingt leider immer noch ziemlich verrückt.

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