Viel mehr als nur ein Stückchen Erde

Beduinen wehren sich gegen Vertreibung

  • Celestine Hassenfratz, Beersheba
  • Lesedauer: 6 Min.
Palästinensische Kampftage sind in Israel schon lange nicht mehr rein palästinensische Angelegenheiten. Immer mehr Israelis engagieren sich und unter ihnen immer mehr junge.

Rotbraune, staubige Erde in kleinen Plastikbeuteln, dazu ein Flugblatt. »Die Farbe der Erde ist so wie wir, dieses Land gehört uns«, steht in arabischer Schrift auf den Plastikbeuteln. Die israelische Sonne steht im Zenit an diesem Sonntagmittag über der Ben-Gurion-Universität in Beer᠆sheba, im Süden Israels. Seit drei Stunden verteilen Rafat und seine Freunde Erde und Infoblätter. Es ist eine Geste mit Symbolcharakter.

Die Jugendlichen sind Mitglieder der arabischen Partei Balad (Land), die sich für eine Zwei-Staaten-Lösung auf Basis der Grenzen Israels vor dem Krieg von 1967 und das Recht auf Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge einsetzt. Mit ihrer Aktion erinnern sie an den 30. März 1976. Damals kam es zu Landenteignungen durch die israelischen Behörden gegenüber der arabischen Bevölkerung im Norden Israels. Zehntausende Palästinenser traten dagegen in den Generalstreik.

Es waren die ersten großen, organisierten Proteste der Araber gegen die Politik Israels seit der Staatsgründung 1948. Während der Proteste wurden sechs Araber getötet, Hunderte verletzt. Seit jenem Tag erinnert die arabische Bevölkerung in Israel und den palästinensischen Au- tonomiegebieten jedes Jahr im Rahmen des »Land Day« mit Protesten und Streiks an die Vorgänge von damals. Auch Rafat und seine Freunde machen da mit.

Rafat sitzt, die Beine verschränkt, auf dem Bett seines knapp zehn Quadratmeter kleinen Studentenzimmers. Der 22-Jährige studiert Politikwissenschaften und ist wütend. Wütend auf die Politik der israelischen Regierung, nicht auf die jüdische Bevölkerung, betont er. Alle paar Minuten piept sein Handy, Facebook meldet neue Nachrichten. Neben einer Protestaktion am Morgen hat er für den Nachmittag eine Veranstaltung mitorganisiert, und viele wollen von ihm wissen, wie sie das dafür angegebene Sawaween, einen kleinen Ort in der Wüste, am besten erreichen können. Sawaween ist eines von rund 40 von Israel nicht anerkannten Beduinendörfern.

»Die Landenteignung hört nicht auf«, sagt Rafat und meint damit die Lebenssituation von etwa 90 000 der 170 000 Beduinen, die in den nicht anerkannten Dörfern leben. Da die Beduinendörfer ohne die ausdrückliche Genehmigung des Staates Israel entstanden sind, kümmert sich dieser zumeist nicht um die Versorgung mit Elektrizität, Schulen - ja, nicht einmal Wasser.

Öffentliche Verkehrsmittel halten irgendwo an der Landstraße, kilometerweit von den Dörfern entfernt. Rafats Zorn richtet sich auch gegen den »Prawer-Plan«, 2011 vom israelischen Parlament, der Knesset, verabschiedet. Er sieht die Umsiedlung von rund 40 000 Beduinen in der Negev-Wüste vor. Laut Israels Regierung sollen damit der Status der Beduinen im Negev verbessert und die Integration der Beduinen in die israelische Gesellschaft vorangetrieben werden. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch sowie die UNO verurteilten den Plan im September 2013 als Eingriff in die Menschenrechte der Beduinen.

Die zurückliegenden Monate hat Rafat damit verbracht, Straßen zu blockieren und gegen den Prawer-Plan zu protestieren. Die Regierung stoppte ihn im Dezember vorerst. Bei einem Protest im vergangenen Juli wurde Rafat festgenommen. Fünf Tage saß er im Gefängnis. Er soll einen Polizisten geschlagen haben, wirft man ihm vor. Nächste Woche wird ihm der Prozess gemacht. Angst? Nein, Angst habe er nie, sagt Rafat. Auch keine Angst, bei den Protesten Gewalt anzuwenden und gewalttätig behandelt zu werden. Heute in Sawaween aber sollen die Proteste friedlich ablaufen.

Plakate mit »Israel Apartheid-Week« und »Free Palestine« pflastern die Wand in Rafats Zimmer. Er hat sich umgezogen, den grellorangen Balad-Pulli gegen ein schwarzes Shirt mit Palästina-Flagge getauscht und einen schwarz-weiß-karierten Palästinenser-Schal umgelegt. Schnell wird ein Sheruk, ein privater Kleinbus organisiert, um gemeinsam mit fünf weiteren Freunden in das Beduinendorf zu den Protesten zu fahren. Auf dem Weg in die Wüste scherzen die Jugendlichen im Bus, knipsen Selfies, posten Fotos auf Facebook.

Im Dorf angekommen staubt es. Erde wirbelt auf. Israelische Erde. Palästinensische Erde. Wüstensand. Eigentlich egal, sagt Rafat. »Dieses Land gehört auch uns.« Die ersten Männer haben schon Platz genommen, im großen schwarzen Beduinenzelt, auf weißen Plastikstühlen. Reihe eins bis sieben ist gefüllt mit alten Männern. Ab Reihe acht sitzen die Frauen. »Hier in den Beduinendörfern ist alles etwas traditioneller«, sagt Shaden entschuldigend, die mit Rafat zusammen hierhergekommen ist.

Die junge Frau trägt ein schwarzes Kopftuch, ein graues langes Kleid und den karierten Palästinenser-Schal. Selbstbewusst erzählt sie, dass sie den Schal auch manchmal in der Uni trägt. Ich habe das Recht, für meine Meinung einzustehen und meine Stimme zu erheben, sagt sie. Sie beginnt zu klatschen, singt: »Juden, die ihr uns unser Land nicht geben wollt, geht weg!«

Die anderen Jugendlichen stimmen ein, Palästina-Fahnen werden geschwenkt. Shaden sagt, sie glaubt ganz fest an eine Lösung und daran, dass bald alles gut wird. Aber nicht mit einer Zwei-Staaten-Lösung. Sie will einen Staat für alle. »Wir können hier gemeinsam leben«, daran glaubt sie zumindest.

Arabische Politiker aus dem ganzen Land sind angereist, halten Reden, auch Jamal Zahalka, Mitglied der Knesset für die Balad-Partei. Shaden klatscht für Zahalka, aber sie empört, dass so wenig Frauen in der arabischen Politik eine Rolle spielen. Deshalb klatscht sie besonders laut, als Huda, eine 26-jährige Frau, die kleine Bühne betritt und das Mikro in die Hand nimmt.

Sie spricht nicht so laut wie die Männer zuvor, aber ihre Botschaft ist umso deutlicher: »Wir sind nicht hierhergekommen, um politische Reden zu hören, sondern um zu protestieren, unsere Stimmen zu erheben«, sagt sie; und dass jetzt das nächste Level erreicht sei. Was das heißt? »Wir haben keine Angst, Gewalt anzuwenden«, sagt Rafat.

Hier in der israelischen Wüste geht es nicht nur um den Land-Day, nicht nur um das Erinnern, nicht nur um den Prawer-Plan. Es geht um die Politik Israels, die Politik Palästinas, Identitätsfragen und um die Suche nach Wahrheiten. Daneben stehen traurige Fakten. Anschläge der Hamas auf Israel, Anschläge von Israel auf Palästina. Die Angst der israelischen Bevölkerung, im Falle einer Ein-Staat-Lösung als jüdische Minderheit in einem arabischen Staat leben zu müssen; Wahrheiten und Lösungen, die Israels Regierung woanders sieht als die arabische Bevölkerung. Lösungen hat auch hier keiner, nur die feste Überzeugung, ein Recht auf einen palästinensischen Staat zu haben.

Bei Protesten in Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten kommt es, geht es um dieses Thema, nicht selten zu Ausschreitungen. Im Wüstendorf aber ist es heute ruhig geblieben. Friedlich grast eine Schafherde auf einem Stück Wiese, und in Sawaween senkt sich die Sonne langsam dem Horizont zu.

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