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Handzahme Belegschaften gehören der Vergangenheit an

Der Gezi-Aufstand hat der Arbeiterbewegung in der Türkei neue Impulse gegeben / Widerstand notfalls auch ohne den Segen der Gewerkschaftsführung

  • Peter Schaber
  • Lesedauer: 4 Min.
Der türkische Wirtschaftsaufschwung basiert zum beträchtlichen Teil auf schlechten Arbeitsbedingungen und miesen Löhnen. Immer weniger Beschäftigte nehmen das widerstandslos hin.

Die Besetzung des Istanbuler Gezi-Parks im Juni letzten Jahres hat die türkische Gesellschaft nachhaltig verändert. Auch wenn es der Polizei gelang, die Demonstranten unter Einsatz massiver Gewalt vom zen᠆tralen Platz zu vertreiben, stellte die »Kommune vom Taksim« eine entscheidende Frage: Wem gehört eigentlich die Stadt? »Bizim Taksim, Istanbul bizim«, lautete die einfache Antwort der Aktivisten: Uns gehört Taksim, uns gehört Istanbul.

Auch lange nachdem die Protestzelte abgerissen waren, wirkte diese Frage weiter, in anderen Formen und anderen gesellschaftlichen Sektoren. In den Stadtteilversammlungen, in den Fußballstadien und - langsam, aber sicher - auch dort, wo der gesellschaftliche Reichtum produziert wird, auf den Baustellen und in den Fabriken. Den imposanten Anfang machte die Belegschaft von Kazova-Tekstil.

Der Betrieb war einer jener zahlreichen kleinen Bekleidungshersteller der Türkei, die als Zulieferer für westliche Konzerne arbeiten. Profitabel für die Eigentümer, eine Katastrophe für die Arbeiter: Niedriglöhne, miserable Arbeitsbedingungen, Gewalt durch die Aufseher bei Beschwerden. Anfang 2013 sollten Kazova geschlossen und die Maschinen verkauft werden, monatelang hatte die Belegschaft schon keine Löhne bekommen. Es folgten eine Mobilisierung der Arbeiter, Demonstrationen, Aktionen vor dem Haus des Chefs, ein Rechtsstreit mit Hilfe engagierter Anwälte. Am Ende ist Kazova nun in der Hand der Belegschaft und wird selbstorganisiert weitergeführt.

»Ja, Gezi hat viel verändert, auch für den Arbeiterwiderstand«, sagt Davut, einer der Kazova-Arbeiter. »Früher, wenn wir Widerstand in einer Fabrik leisteten, haben wir uns einige Rechte erkämpft und dann weitergearbeitet. Von jetzt an, Kazova hat das gezeigt, ist das Ziel, die gesamten Beziehungen in der Produktion zu verändern.«

Ähnlich wie bei Kazova sieht es derzeit in der Redaktion der Tageszeitung »Karsi« im Istanbuler Stadtteil Zeytinburnu aus. Auch der Besitzer der erst seit wenigen Monaten bestehenden Zeitung will nicht mehr bezahlen. Etwa 424 000 Lira (eine Türkische Lira entspricht 0,35 Euro) schuldet Turan A. seinen Angestellten. Diese besetzten die Redaktionsräumlichkeiten von »Karsi«. Auch sie wollen den Betrieb in Eigenregie fortführen. Derzeit bringen sie täglich eine Seite über ihren eigenen Arbeitskampf heraus, nun unter dem Titel »Karsi Direnis«.

Anfang April hatte die Polizei das Gelände des Verpackungsherstellers Greif in Istanbul-Esenyurt gestürmt, das zwei Monate lang von Arbeitern besetzt gehalten worden war. Die US-amerikanische Firma ließ ihre Belegschaft zum Mindestlohn - umgerechnet unter 300 Euro monatlich - oft zwölf Stunden am Tag schuften, viele sind als Leiharbeiter beschäftigt. Ein Großteil der 1500 Arbeiter wollte das nicht länger hinnehmen. Zugeständnisse gab es seitens des Großkonzerns nicht, also radikalisierte sich der Arbeitskampf, zuletzt auch gegen den Willen der zuständigen Sektion ihrer Gewerkschaft, der Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei (DISK).

Greif, Kazova, Karsi Haber, der Pharmahersteller Zentiva, die Aluminiumfabrik Fenis, die Textilfabrik Moda Corap, der Stromerzeuger DEDAS - all diese Unternehmen wurden in den Monaten nach der Räumung des Gezi-Parks zumindest zeitweise besetzt.

Doch auch da, wo - noch - keine Besetzungen der Produktionsstätten stattfinden, wird der Widerstand entschlossener. Als die Polizei im April, unterstützt von der Gendarmerie, aufgebrachte Arbeiter eines Kohlekraftwerks in Küthaya, das im Dezember privatisiert worden war und seitdem von der Celikler Holding betrieben wurde, angriff, bekam sie es mit massiver Gegenwehr der Belegschaft zu tun. Diese lieferte sich Straßenschlachten mit der zur Hilfe gerufenen Staatsmacht. Am Ende brannten die gegen Kündigungen protestierenden Arbeiter das Verwaltungsgebäude der Holding nieder.

Die Aktionen der Arbeiter passieren immer öfter, ohne dass sie den Segen der DISK-Funktionäre vorher eingeholt haben. »Wir haben kein Problem mit Gewerkschaften, sondern mit der Bürokratie«, erklärt einer der Greif-Arbeiter bei einer Protestaktion vor dem Gebäude der DISK. »Sie kooperieren mit den Bossen und sogar den Bullen«, klagt er an. Anstelle der bürokratisierten Vertretungspolitik wollen viele einen Zusammenschluss der Beschäftigten, der von einer Basisbewegung ausgelöst worden ist.

Auch diese Idee ist an die aus dem Gezi-Widerstand hervorgegangene Forenbewegung angelehnt. Nach der Räumung des Parks wichen die aktiven Mitglieder der Bewegung in die Kieze aus, man traf sich an öffentlichen Plätzen. Dort konnte jeder, der wollte, das Wort ergreifen. Vor zwei Wochen nun fand in Istanbul-Kadiköy das erste Arbeiterforum statt, bei dem Delegierte aus zwölf Betrieben sprachen, die sich derzeit in einem Arbeitskampf befinden. Einige davon, wie die Belegschaft der Ledermanufaktur Punto Deri, ist schon seit Monaten im Ausstand. Andere stehen erst am Anfang, darunter viele Zusammenschlüsse von Arbeitern aus dem Dienstleistungssektor. Gerade im Bereich der Büroangestellten hat Gezi einen enormen Impuls ausgelöst. »Die Trennung in White-Collar- und Blue-Collar-Arbeiter (etwa Krawatten- und Blaumannträger - d. Red.) ist nur dazu da, um uns zu spalten. Wir produzieren etwas, wir verkaufen: unsere Arbeitskraft. Und wir werden ausgebeutet. Wir sind Arbeiter«, sagt ein Software-Programmierer.

Am Ende spricht auf der Versammlung in Kadiköy Mustafa von der Insaat Iscilerinin Dernegi, einer für ihre direkten Aktionen bekannten Vereinigung von Bauarbeitern. »Reden hilft nicht. Schlagt die Bosse auf den Kopf«, sagt er. Er erntet besonders viel Applaus.

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