In der Ukraine ist nach der Wahl vor der Wahl

Zur Legalisierung der Machtorgane gehören auch eine Verfassungsreform und die Neuwahl des Parlaments

  • Klaus Joachim Herrmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Präsidentenwahl ist für die Ukraine nach dem Umsturz vom Februar erst der Anfang. Gewartet wird schon zu lange auf eine Verfassungsreform und die Neuwahl des Parlaments.

Die wichtigste Ankündigung für die Zeit nach der Wahlentscheidung wagte Favorit Petro Poroschenko im westukrainischen Lwiw. Unter Berufung auf den Willen von Volk und Maidan kündigte er für den Fall seines vorausgesagten Sieges die Auflösung des Parlaments und die Ausschreibung vorzeitiger Neuwahlen an. Es gelte danach, eine »neue Koalition auf der Grundlage unseres gemeinsamen Ziels der europäischen Orientierung« zu formieren.

Die Forderung nach Legalisierung der Machtorgane findet Monate nach dem Kiewer Umsturz vom Februar immer mehr Anhänger. Altpräsident Leonid Krawtschuk schlug als einer der Moderatoren des Runden Tisches dem Parlament vor, über seine Selbstauflösung nachzudenken. Stimmen für die Abhaltung von Parlamentswahlen werden lauter - und sei es, um gegen »Verrat und Sabotage« der früher regierenden Partei der Regionen und der Kommunisten vorzugehen, wie der Parteiführer der rechtsextremen Swoboda, Oleg Tjagnibok, scharf machte.

Solche Wahlen dürften aber ohne die seit Langem geforderte Verfassungsreform wirklich nicht mehr zu machen sein, selbst wenn das von der Kiewer Übergangsmacht bei der Präsidentenwahl noch verteidigt wurde. Runde Tische und Memoranden könnten eine günstig Rolle spielen, räumte der Abgeordnete Boris Kolesnikow für die in die Opposition gedrängte Partei der Regionen ein. Doch nun müsse man an die Verfassung herangehen. Der Staat sei entweder unitär, wenn auch mit größeren Vollmachten für die Regionen, oder föderativ. »Ohne konkrete Änderungen der Verfassung können wir den Bürgern nicht sagen, wohin sich die Ukraine entwickelt«, mahnte er.

Das Versprechen, eine Verfassungsreform mit Orientierung auf Dezentralisierung der Macht und eine parlamentarisch-präsidiale Republik unverzüglich einzuleiten, ist seit knapp einer Woche amtlich. Die Werchowna Rada, das Parlament in Kiew, verabschiedete am Dienstag mit 252 von 450 Stimmen sein »Memorandum für Frieden und Eintracht« mit Gesetzeskraft. Das Dokument war vom Runden Tisch in Charkow erarbeitet und verabschiedet worden. Vertreter der abtrünnigen »Volksrepubliken« des Ostens hatten dort allerdings keinen Sitz und schon gar keine Stimme.

Doch natürlich ging es bei den Reizthemen Dezentralisierung - sprich größere Rechte der Regionen - und Status der russischen Sprache genau um den Osten und Süden der Ukraine. Sogar der Vizechef der »Volkswehr« in Donezk, Miroslaw Rudenko, räumte ein, dass sich eine Verwirklichung des Dokuments »möglicherweise auf die Situation im Osten auswirken« könnte.

Gerade die demonstrative und provokante Absage insbesondere der rechtsextremen Sieger von Kiew an das Sprachengesetz hatte die russischsprachige Bevölkerung in Aufruhr versetzt. Noch unter dem gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch war dem Russischen regional der Status einer Amtssprache zugestanden worden. Durch ein neues Gesetz sollte dies revidiert werden. Das wurde als Kampfansage des Westens, der sich zunehmend militant auf die EU orientierte, an den russlandfreundlichen Osten verstanden. Nicht einmal der Parlamentspräsident und enge Vertraute der Vaterlandspartei-Chefin Julia Timoschenko, Alexander Turtschinow, wagte das Gesetz zu unterzeichnen. Doch viele Ukrainer im Südosten fühlten sich zurückgesetzt und gedemütigt. Erst einige Krisen später ließ sich von den neuen Machthabern jemand überhaupt in der Gegend blicken.

Ukrainisch soll künftig zwar einzige Amtssprache sein, der Status des Russischen aber auf bisher noch nicht beschriebene Weise gestärkt werden. Auch andere Sprachen nationaler Minderheiten sollen in »kompakten Siedlungsgebieten« besondere Unterstützung erhalten. Als Garant dafür nimmt sich die Werchowna Rada selbst in die Pflicht. Die Kommunisten bemängelten, dass Russisch nicht überall zweite Amtssprache sein wird. Von der rechtsextremen Swoboda kam harsche Kritik daran, dass die russische Sprache überhaupt regional in den »besonderen Status« erhoben werden kann.

Zum Abbruch der Kampfhandlungen führte die Initiative nicht. Ultimativ wurden die Milizen der abtrünnigen Regionen aufgefordert, die Waffen zu strecken. In Aussicht gestellt war eine Amnestie. Zum Ende der »Anti-Terror-Operation«, wie von den neuen Chefs im Osten gefordert, mochte sich die Übergangsmacht in der Hauptstadt nicht durchringen.

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