Ein Jahr Gezi: 120 Menschen festgenommen

Polizei macht Jagd auf Menschen / Tränengas gegen friedliche Opposition / Tausende auf Istanbuls Straßen / CNN-Korrespondent festgesetzt / Erdogan beschimpft Kritiker als »Terrororganisationen«

  • Lesedauer: 5 Min.

Update Sonntag, 6 Uhr: Bei den Demonstrationen zum Jahrestag des Beginns der landesweiten Gezi-Proteste sind allein in Istanbul etwa 120 Menschen festgenommen worden. Das sagte der Polizeichef der Stadt, Selami Altinok, nach Angaben der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu am späten Samstagabend. Der Polizeichef erklärte vor Journalisten auf dem Taksim-Platz, dass vier Polizisten verletzt worden seien - über die Zahl der Verletzten unter den Regierungskritikern sagte er nichts. Auf zahlreichen Fotos im Internet waren Menschen mit Verletzungen zu sehen, ein im Internet veröffentlichtes Video zeigt, wie die Polizei unvermittelt und ohne erkennbaren Anlass eine friedlich durch die Straße ziehende Menge in die Zange nimmt und von beiden Seiten mit Wasserwerfern und Tränengas attackiert. Ein Polizist schießt aus kurzer Entfernung Dutzende Male mit Gummigeschossen auf die Menge, die sich nicht gegen die Sicherheitskräfte gestellt hatte. Die Polizei macht Jagd auf Menschen.

Update 19.15 Uhr: Der 20-jährige Demonstrant Öguz Demir sagte mit Blick auf die Toten der Gezi-Proteste 2013 und das Grubenunglück von Soma am 13. Mai: »Wir wollen an die Toten von Gezi und Soma erinnern, aber man lässt uns nicht auf den Taksim. Was ist das für ein Staat?« Die 29-jährige Lehrerin Nesrin Özgür kritisierte: »Erdogan hat das Land gespalten. Jeder, der seine Menschenrechte einfordert, wird festgenommen.« Die 28-jährige deutsche Touristin Jil Dicks aus Hamburg, die zufällig in die Proteste geriet, sagte: »Ich verstehe nicht, wieso man so hart gegen die Menschen vorgeht.«

Update 18.30 Uhr: Am Jahrestag des Beginns der landesweiten Gezi-Proteste in der Türkei ist die Polizei in Istanbul und Ankara gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen. Sicherheitskräfte setzten am Samstagabend auf der zum Taksim-Platz führenden Einkaufsmeile Istiklal Caddesi Tränengas ein, wie ein Reporter der Nachrichtenagentur dpa berichtete. Der Stuttgarter Linkenpolitiker Tom Adler berichtete von vor Ort, er »gerade eben nähe Taksim knapp einer Bürgerkriegsarmee mit Wasserwerfern, Gasgranaten und Schlagstöcken in die Wohnung einer Bekannten entkommen«. Die Demonstranten waren bis dahin friedlich, berichtet die dpa. Hunderte Menschen wurden von den Polizisten eingekesselt, meldet AFP. Auch in Ankara versuchten die Sicherheitskräfte, etwa tausend Teilnehmer einer Kundgebung auseinanderzutreiben.

Update 16.50 Uhr: Laut der Zeitung »Hurriyet Daily« versuchen immer mehr Menschen, in Richtung des Taksim-Platzes in Istanbul zu gelangen. Es wird über den Kurznachrichtendienst Twitter von mehreren Festnahmen berichtet, Bilder zeigen wie Protestierende von Zivilpolizisten abgeführt werden, andere sitzen an den Händen gefesselt auf der Straße. Viele der in Zivil gekleideten Polizisten tragen offenbar die selben Rucksäcke. Laut einer Initiative von Bürgerjournalisten gibt es in der ganzen Türkei Aktionen der Protestbewegung. In Ankara wurden so genannte Gezi-Zelte auf einer Brücke errichtet. In der Nähe des Taksim-Platzes in Istanbul protestieren Menschen mit einer Sitzblockade.

Update 15.20 Uhr: Der Türkei-Korrespondent des US-Senders CNN, Ivan Watson, ist nach eigenen Angaben während einer Live-Schalte vom Istanbuler Taksim von der Polizei festgesetzt worden. Ein Polizist habe ihn dabei am Samstag mit dem Knie gestoßen, berichtete Watson über Twitter. Er und sein Team seien nach einer halben Stunden wieder freigelassen worden. Auf CNN-Fernsehbildern war zu sehen, wie Polizisten in zivil die Live-Schalte behinderten. Einer der Polizisten stellte sich mit dem Rücken vor die Kamera.

Update 14.30 Uhr: Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat mit scharfen Worten vor der Teilnahme an geplanten Protesten auf dem Istanbuler Taksim-Platz gewarnt. Die Sicherheitskräfte hätten »eindeutige Anweisungen erhalten« und der Staat werde »alles tun, was für seine Sicherheit nötig ist«, sagte Erdogan am Samstag vor tausenden Anhängern in Istanbul. »Ihr werdet es nicht auf den Platz schaffen, so wie Ihr es vergangenes Jahr getan habt, denn Ihr müsst die Gesetze befolgen«, sagte er an die Adresse seiner Gegner und drohte mit sofortigen Festnahmen.

Erdogan beschimpft Opposition als »Terrororganisationen«

Berlin. Ein Jahr nach Beginn der Gezi-Proteste in der Türkei sollen in Istanbul tausende Sicherheitskräfte neue Proteste gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan offenbar mit aller Macht verhindern. Insgesamt stünden 25.000 Polizisten bereit, um den symbolträchtigen Taksim-Platz mit 50 Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen abzuriegeln. Wie ein AFP-Reporter berichtete, waren am Samstag neben Bereitschaftseinheiten auch Beamte in Zivilkleidung unterwegs. Die Nachrichtenagentur Dogan meldete, am Nachmittag werde der Fährverkehr über den Bosporus von der asiatischen auf die europäische Seite Istanbuls ausgesetzt. Auf der europäischen Seite der Metropole liegt der Taksim-Platz. In der Umgebung des Platzes wurden auch Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeuge in Stellung gebracht.

Auch in Ankara, Izmir und anderen Städten sind zum ersten Jahrestag der Istanbuler Gezi-Park-Proteste neue Kundgebungen geplant. Ende Mai vergangenen Jahres waren türkische Sicherheitskräfte in Istanbul mit Gewalt gegen Umweltschützer vorgegangen, die im Gezi-Park gegen die geplante Abholzung von Bäumen protestierten. Die Aktion löste landesweit wochenlange Proteste aus, bei denen acht Menschen starben und Tausende verletzt wurden. Immer wieder flammen seitdem Proteste auf, die die Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas zerschlägt.

Erdogan hatte die Demonstranten damals als Vandalen und Plünderer bezeichnet und die Polizei für ihr hartes Vorgehen gelobt. Politische Kundgebungen im Gezi-Park und auf dem angrenzenden Taksim-Platz sind seitdem verboten. Zum Jahrestag forderte er, nicht zu den Demonstrationen zu gehen. Er beschimpfte die Protestierenden als »Terrororganisationen«, die die »moralisch und finanziell schwache Jugend« der Türkei manipuliert hätten, um die Einheit und die Wirtschaft des Landes in Gefahr zu bringen. Die Organisatoren der Proteste nannte er unter anderem »sogenannte Künstler«. Mit ihren Protestaufrufen würden die Demonstranten versuchen, der Türkei »neue Tote, neue Schmerzen« zuzufügen, sagte Erdogan am Freitagabend nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu. In einer Rede vor Anhängern in Istanbul sagte er: »Aber ihr, die türkische Jugend, werdet den Aufruf ignorieren.« Agenturen/nd

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