Eine Nachricht aus Hamburg, die niemand vermisste

  • Gabriele Oertel
  • Lesedauer: 2 Min.

Früher habe ich mich oft gewundert, dass Angehörige der Generation vor mir auch Jahrzehnte später noch minutiös sagen konnten, was sie am 8. Mai 1945 gemacht haben oder wie ihnen da zumute war. Erst seit 1989 und 1990 weiß ich, dass es neben den ganz persönlichen Höhepunkten wie der Hochzeit oder der Geburt der Nachkommen durchaus andere Tage gibt, die sich für immer und ewig ins Gedächtnis eingraben - auch wenn sie zunächst gar nichts oder nur mittelbar mit dem eigenen Leben zu tun haben.

Mein 9. November 1989 war zunächst ein ganz normaler Journalisten-Arbeitstag - auf dem Kalender stand eine Reise vom Bonner ADN-Büro nach Hamburg. Auftrag war es, über 1500 Sinti und Roma zu berichten, die in den davor liegenden Wochen zumeist aus Polen und Jugoslawien nach Hamburg eingereist waren und denen nun die Abschiebung durch den Senat der Hansestadt drohte. In das ehemalige Konzentrationslager Neuengamme, wo ihre Vorfahren von den Nazis gequält und ermordet worden waren, hatten sich viele dieser Sinti und Roma zurückgezogen, um mit einem Hungerstreik am symbolischen Ort für ihr Bleiberecht in Deutschland zu demonstrieren.

Kalt war es, es nieselte - ein deutscher Novembertag auf einem KZ-Gelände. Bedrückend die Bilder, bedrückend die Stimmung, bedrückend die Aussichten für die Betroffenen - auf der Rückfahrt nach Hamburg war niemandem nach Radiohören. Und ich bastelte an der Meldung, auf die in Berlin schon gewartet wurde. Dachte ich zumindest. Doch in der öffentlichen Telefonzelle, auf die wir vor der Erfindung des Handys angewiesen waren, war eine ganze Stunde lang keine Verbindung in die DDR-Hauptstadt zu ergattern. Das war ungewöhnlich. Wenn ich auch manches in den Jahren in der Bundesrepublik erlebt habe - schlechte Kommunikationsverbindungen von West nach Ost gehörten eher nicht dazu. Im Hotel kam via Bildschirm die Aufklärung und am nächsten Morgen per Telefonat die Erkenntnis, dass im Trubel der Ereignisse die Nachricht aus Hamburg nicht einmal vermisst worden war. Die deutsch-deutsche Welt hatte plötzlich andere Sorgen als das Schicksal von Sinti und Roma aus Polen und Jugoslawien.

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